Schon vor Beginn der Documenta präsentierte Ruangrupa das "lumbung"-Konzept – Denkräume, die gemeinschaftlich genutzt werden.

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Im Stadtzentrum von Kassel gibt es seit einer Weile ein Haus, in dem die documenta fifteen schon begonnen hat. Die bedeutende, alle fünf Jahre stattfindende Großausstellung für zeitgenössische Kunst wird offiziell am 18. Juni eröffnet, im Ruruhaus aber kann man jetzt schon einen Eindruck davon gewinnen, worum es dieses Mal gehen wird. Das indonesische Kollektiv Ruangrupa lädt zum "nongkrong" ein, so lautet ein Wort für "Beisammensein und miteinander Abhängen" in seiner Landessprache.

In Form eines lumbung (wörtlich: einer gemeinschaftlich genützten Reisscheune) soll die documenta fifteen erarbeitet werden. In ihrem Heimatland haben Ruangrupa immer wieder private Wohnzimmer in öffentliche Räume verwandelt, schon allein diese Strategie hätte sie für die Ausrichter der Documenta interessant machen müssen. Denn nachdem in den 14 Ausgaben davor allmählich der Kanon der westlichen Moderne zuerst etabliert und dann aufgebrochen worden ist, gilt heute auch für die Documenta das Gebot, sich für nichtwestliche Perspektiven zu öffnen, aber auch für kollektive Praktiken, für politische Kunst und für künstlerische Forschung. All das kann man mit Ruangrupa assoziieren, die dem Casting für eine geopolitische Erweiterung des Großevents besonders gut entsprochen haben.

Kollektiv unter Verdacht

Nun ist das Kollektiv aber in den Verdacht geraten, auch für Antisemitismus zu stehen. Ein am 7. Jänner veröffentlichter, ausführlicher Blogeintrag eines Bündnisses gegen Antisemitismus in Kassel beschäftigte sich ausführlich mit "Antizionismus und Antisemitismus im lumbung". Eingehend ging es darin um Beziehungen von Mitgliedern und Verbündeten von Ruangrupa zu der Initiative BDS (Boycott, Divestment and Sanctions), die dazu aufruft, den Staat Israel wegen seiner Besatzungspolitik zu boykottieren.

In Deutschland gibt es einen Bundestagsbeschluss, dass BDS als antisemitisch zu werten sei. Dagegen formierte sich im Dezember 2020 die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die in der Diskussion über BDS für die Wahrung der Meinungsfreiheit und gegen eine gleichsam abschließende, offizielle Position der Bundesrepublik in Sachen BDS eintritt. Institutionen wie das Berliner Haus der Kulturen der Welt, aber auch das Jüdische Museum Hohenems in Österreich haben sich angeschlossen, die Debatte ist also weiterhin intensiv im Gang, und gerade der Kunstbetrieb und das kulturelle Feld sind in hohem Maß involviert.

Romantische Verklärung

Die Vorwürfe des Bündnisses in Kassel wenden sich polemisch gegen Ruangrupa ("in der Reisscheune mehr Antisemitismus wagen"), aber auch pauschal gegen den "postmodernen Kunstbetrieb". Man arbeitet sich an Details ab wie dem, dass an einer Stelle Jerusalem als eine Stadt in Palästina bezeichnet wird, und unterstellt Ruangrupa eine "postkolonial romantische Verklärung von Blut und Boden", was sicher eine Überzeichnung der agrikulturell inspirierten Vorgehensweisen darstellt.

Womit das Bündnis richtig liegt, ist der Umstand, dass Ruangrupa mit vielen seiner Vertreterinnen und Mitglieder offensichtlich dem postkolonialen Mainstream im gegenwärtigen Kunstbetrieb folgt, für den Israel ein "siedlungskolonialistischer Staat" ist, während der Konflikt in Palästina ausschließlich aus der Warte der Menschen in den besetzten Gebieten und in Gaza gesehen wird.

Da steht dann auch schnell, zumindest implizit, das Existenzrecht des Staates Israel zur Disposition. In Deutschland wiederum ist eine besondere Beziehung zu Israel nach den Verbrechen der Nationalsozialisten Staatsräson, die Antisemitismus-Resolution hat in dieser erhöhten Solidarität ihren Kontext.

We need to talk"

So ist ein klassischer Double Bind entstanden: Die Documenta musste sich dringend stärker für postkoloniale Aspekte öffnen, in diesen Zusammenhängen ist Palästina aber ein stark dogmatisch verhandelter Topos. Die ganze Sache ist ein Knoten, in dem auf eine gewisse Weise alle recht haben, aber Realpolitik kaum eine Rolle spielt.

Die Documenta GmbH will ein Forum mit dem Titel "We need to talk" einberufen, beharrt im Übrigen aber auf der Kunstfreiheit. Ruangrupa aber wird nichts anderes übrigbleiben, als sich in die Nuancen des europäischen geschichtspolitischen Diskurses einzuarbeiten, um dann auch qualifiziert zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Das könnte für den ganzen Kunstbetrieb ein Gewinn sein. (Bert Rebhandl, 25.1.2022)