Was bewirkte die Entwicklung von Homo erectus und Konsorten?
Bild: Mauricio Anton, mit Erlaubnis der George Washington University

Viele Fragen der menschlichen Evolution sind ohne Zeitreisen nur schwierig zu beantworten. Fossilienfunde sind relativ rar gesät, und bei ihrer Interpretation sind sich nicht alle Fachleute einig. Was genau sagt es beispielsweise aus, dass der Gattung Homo größere Gehirne zugeschrieben werden, und wie kam es zur folgenreichen Weiterentwicklung von Hirn und Schädel? Ermöglichten etwa bestimmte Umweltbedingungen das Gehirnwachstum, oder intensivere sprachliche Kommunikation, die Ernährung vielleicht – oder mehrere Faktoren in Wechselwirkung miteinander?

Eine Hypothese lautet, dass durch verstärkten Fleischverzehr und die dadurch proteinreichere Ernährung gute Voraussetzungen für die Gehirnentwicklung bestanden. Zeitlich könnte das durchaus zu bisherigen Funden passen. Immerhin lebten die ersten Vertreterinnen und Vertreter unserer Gattung vor etwa 2,5 bis 1,5 Millionen Jahren – und alte Werkzeugspuren an Knochen, die ebenfalls bis zu einem Alter von 2,5 Millionen Jahren datiert wurden, deuten auf das Zerlegen von Tieren hin, um an Fleisch und Knochenmark zu kommen.

Knistern und Knollen

Allerdings gibt es auch zahlreiche Gegenstimmen. Der britische Primatologe Richard Wrangham vertritt beispielsweise die Theorie, dass das Kochen ausschlaggebend war und eine bessere Verwertung der Nahrungsmittel ermöglichte. Dadurch sei genügend Energie entstanden, um das Gehirn – das ein ziemlicher Energiefresser ist – zu versorgen und die Weiterentwicklung zu ermöglichen. Nur hinterlassen Feuerstellen (wenngleich durchaus prähistorisch nachgewiesen) vergänglichere Spuren und sind daher schwieriger zu entdecken. Andere Fachleute vermuten, dass es eher kohlenhydratreiche Knollen wie beispielsweise die Yamswurzel waren, die die nötige Energie lieferten und noch heute auf dem Speiseplan von Jäger-Sammler-Gesellschaften stehen.

Eine aktuelle Studie relativiert die bisherigen Knochenfunde, die in Richtung der Fleisch-bringt-Hirnwachstum-Theorie interpretiert werden. In der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) schreibt die Forschungsgruppe, dass zwar archäologische Beweise für Fleischkonsum mit dem Aufkommen der Spezies Homo erectus stark zunehmen. Jedoch liege dies vor allem daran, dass auf diesem Zeitraum der "Menschwerdung" ein besonderer wissenschaftlicher Fokus und ein großes Interesse liegt. In der Folge werde aber das Bild verzerrt und der Zusammenhang von Fleischessen und der Entwicklung der Gattung Homo verfälscht unterstrichen.

Explosion des Fleischverzehrs?

Hauptautor Andrew Barr von der George-Washington-Universität im US-amerikanischen Washington, D.C., formuliert es so: "Generationen von Paläoanthropologen haben an Orten wie der Olduvai-Schlucht, die berühmt ist für die gut erhaltenen Funde, nach atemberaubenden direkten Hinweisen auf den Fleischkonsum von Frühmenschen gesucht und sie gefunden. Damit stützten sie den Standpunkt, dass es vor zwei Millionen Jahren und danach eine Explosion des Fleischverzehrs gab." Doch die quantitative Analyse zahlreicher Funde in Ostafrika ließ beim Forschungsteam Zweifel an der Hypothese aufkommen.

Funde wie diese 1,5 Millionen Jahre alten fossilen Knochen aus dem kenianischen Koobi Fora zeigen durch Schnittspuren, dass hier wohl Menschen an Tierfleisch gekommen sind.
Foto: Briana Pobiner, mit Erlaubnis der George Washington University

Das Team wertete verschiedene Parameter von 59 Fundorten aus einem Zeitraum von vor 2,6 bis 1,2 Millionen Jahren aus. Dazu gehörte, an wie vielen davon man Schnittspuren an Tierknochen fand und wie viele geologische Schichten untersucht wurden.

Überrepräsentierte Funde

Dabei stellte sich heraus, dass gleichzeitig mit dem Auftreten des Homo erectus offenbar die Anzahl dieser Schnittspuren nicht zugenommen hat – zumindest wenn man berücksichtigt, dass sich der Aufwand, diese Proben dahingehend zu analysieren, mit der Zeit verstärkt hat und sie damit quasi überrepräsentiert sind.

Barr weist auch darauf hin, dass die Forschungsarbeit interessant sein dürfte für Menschen, die sich aktuell auf eine fleischlastige Ernährung konzentrieren in der Annahme, dies habe bereits unsere Vorfahren unterstützt: "Unsere Studie untergräbt die Vorstellung, dass der Verzehr großer Fleischmengen die evolutionären Veränderungen bei unseren frühen Vorfahren vorangetrieben hat."

Theorien auf wackligen Füßen

Co-Autorin Briana Pobiner vom Smithsonian-Nationalmuseum für Naturgeschichte sagt, die Studie verändere das Verständnis dessen, was Fundanalysen über den frühesten prähistorischen Fleischkonsum verraten: "Und sie zeigt, wie wichtig es ist, dass wir weiterhin große Fragen zu unserer Evolution stellen, während wir aber weiterhin neue Hinweise aus unserer Vergangenheit aufdecken und untersuchen."

Das bedeutet vor allem: mehr Arbeit in der Paläoanthropologie. Die bisherigen Theorien, was zur Entwicklung des Menschen maßgeblich beigetragen habe, seien nämlich allesamt nur mäßig durch Fossilienfunde unterstützt. Also müssen Fachleute genauer nach möglichen Indizien suchen und neue Funde im Kontext bewerten, ohne auf Tendenzen hereinzufallen, die durch verstärkte Untersuchungen einer bestimmten Epoche entstehen. Denn ob es doch einmal die Gelegenheit gibt, die Hypothesen per Zeitmaschine nachzuprüfen, ist höchst fraglich. (Julia Sica, 25.1.2022)