Dirk von Lowtzow (rechts) und Tocotronic bewahren als Best Agers die Form, sind allerdings etwas breiter aufgestellt.

Gloria Endres de Oliveira

Pro: Viel zu weise und zu weit für Band-T-Shirts

Das letzte Licht, das dem Einsamen in den Augen brennt, kommt aus dem Tiefkühlfach. Wenn, frei nach Brecht, die Irrtümer verbraucht sind, sitzt dem Sänger von Tocotronic als letzter Gesellschafter vielleicht ein Dosenchampignon gegenüber.

Wo sich "Einsamkeit vermehrt und Verzweiflung mich verzehrt", kann Dirk von Lowtzow auf dem neuen Album Nie wieder Krieg die staubtrockene Pizza des Lebens noch so dick mit "Kräutern der Provence" belegen. Der geliebte Mensch ist fort. Hat man hingegen Glück, huscht in das Erwachsenenzimmer ein "Monster" (Songtitel), mit dem man durch den Kasten Reißaus nimmt.

Alle Menschen, die Tocotronic etwa seit Veröffentlichung des "weißen Albums" (2002) bedingungslos lieben, sind Dirk von Lowtzow bereitwillig durch das Dickicht seiner Poesie gefolgt. Immer schon ließen sich aus den besten Halbsätzen dieses zögerlichen Schöngeists geräumige T-Shirts mit Slogans bedrucken, manche halb gar, manche halt wahr.

"Pure Vernunft darf niemals siegen": Wo kämen wir sonst hin? Wir säßen in der Falle und müssten uns, siehe oben, bis ans Lebensende von Dr.-Oetker-Produkten ernähren. "Die Folter endet nie": Tocotronic, Herzeigeband der Hamburger Schule, sandte von Anfang an Warnsignale aus den schmerzberuhigten Zonen des Erwachsenseins. Wer wollte, konnte immer die Feedback-Schleifen hören, die Anschlüsse an Kurt Tucholsky und die Widersprüche der Aufklärung. In homöopathischen Dosen vermochte man sogar Stefan George aus von Lowtzows poetischer Hausapotheke herauszuschmecken.

Zum zunehmend lichteren Gitarrengeschrammel von Rick McPhail wurden aus verspielten Welpen in Adidas-Jacken echte Großkünstler. Die Konzeptalben wie Entwicklungsromane anlegen. Die ein Duett mit Soap & Skin (auf der neuen Platte) als schicksalhafte Begegnung mit dem Wassergeist Undine inszenieren: "Ich muss jetzt gehen / Ich kann nur eine Viertelstunde / Im Schlund überstehen".

Nur romantisch glotzen sollte man bei Tocotronic besser nicht. Aus seinen privaten Verstimmungen hat von Lowtzow ein Universum geschaffen, Zeugnisse einer Männlichkeit, die eines nie gewesen ist: toxisch. Diesmal, auf einer exemplarisch gelungenen Platte, erklärt er uns den Käthe-Kollwitz-Merkspruch "Nie wieder Krieg" – zu Glöckchenklang und einer Nick-Cave-Melodie.

Warm ums Herz wird einem dank Ödön von Horváth. Der schönste neue Titel lautet: Jugend ohne Gott gegen Faschismus. Man wird das dazugehörige T-Shirt stark dehnen müssen.

TocotronicVEVO

Kontra: Liebeskummer und Tiefkühlpizza

Den zeitlosen Übergang von der Jugendzeit ins Erwachsenendasein hat bisher kaum einer so schön beschrieben wie Dirk von Lowtzow in dem neuen Song Ich hasse es hier. Er ist Teil des neuen Tocotronic-Albums Nie wieder Krieg. Hören wir kurz hinein: "Wenn die Liebe endet / Ist es mitten in der Nacht / Ein Lichtschein, der mich blendet / Dringt aus meinem Tiefkühlfach". Das ist schon nicht unwesentlich toll, es wird aber noch besser: "Dort liegt eine Pizza / Die ich aufzupeppen versuch’ / Mit Kräutern der Provence / Habe ich keine Chance … Ich hasse es hier / Und mich dafür".

Mitten in der Nacht verlassen zu werden, das kann zwar auch Jugendliche treffen. Mit dem verzweifelten Versuch, eine Tiefkühlpizza mittels "Kräutern der Provence" aufzufrisieren, wird die Hörerschaft allerdings Zeuge einer Transformation. Essen soll ab jetzt der Sex des Alters sein, speziell wenn man gerade verlassen worden ist: "Wenn sich Einsamkeit vermehrt / Und Verzweiflung mich verzehrt", können im Lied aber auch nicht zusätzlich in Stellung gebrachte "Dosenchampignons" das Herzeleid lindern: "Keine Chance."

Allerdings darf man den im reiferen Alter einsetzenden Wunsch nach Steigerung der Lebensqualität durch Verbesserung des Speiseplans nicht unterschätzen. Und wer aus Liebeskummer nachts zum Kühlschrank geht, ist jetzt auch endlich reif für einen Waschbärbauch.

Tocotronic haben Mitte der 90er begonnen, sich mit hingerotztem Gitarrenrock über die Gesamtsituation zu beschweren. Anklänge an diesen fröhlichen Dilettantismus mit Nuschelgesang hört man auch heute noch in Ich hasse es hier. Viele Songtitel sind zu Schlagwörtern geworden: "Aber hier leben, nein danke", "Pure Vernunft darf niemals siegen", "Im Zweifel für den Zweifel". Sie werden für immer einen Stein in jenem Brett haben, das vor dem Kopf nicht das Ende der Welt bedeutet.

Über die Jahre sind Tocotronic etwas waschbäriger und langweiliger geworden. Der Schrott-Look ist schwarzem Tuch gewichen. Statt Undergroundrock weiß man auch das deutsche Kunstlied zu schätzen. Nie wieder Krieg bietet mit Jugend ohne Gott gegen Faschismus zwar einen Indierock-Kracher. Mit der mit Soap & Skin eingespielten Ballade Ich tauche auf geht es aber recht erwachsen zur Sache. Wenn die Tiefkühlpizza nicht mehr als Lebensgrundlage reicht, kann man altersmilde werden. Der Magen verträgt keine scharfen Sachen mehr. Von Dosenchampignons lässt man besser die Finger.

Und live waren Tocotronic oft atemberaubend schlecht.

TocotronicVEVO

(Ronald Pohl, Christian Schachinger, 25.1.2022)