In seinem Gastblog beschäftigt sich der Europapolitiker Hannes Swoboda mit der Zukunftsfrage zwischen dem Westen und Russland.

Von Lenin stammt ein berühmter Aufsatz mit dem Titel "Was tun?". Heute beherrscht diese Frage die politischen Diskussionen im Westen hinsichtlich Russlands beziehungsweise dessen Präsident Putin. Vor allem Putins Mobilisierung von russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine und seine verschiedenen verbalen Drohungen bereiten dem Westen Sorgen.

Russland als imperiale (Schutz-)Macht

Orientiert man sich ein wenig an der russischen Geschichte, so wird man unschwer eine gewisse Tendenz zum Imperialismus erkennen. Zwar war die Ausdehnung des russischen Staatsgebiets auch die Folge von Ansuchen kleinerer Staaten, Russland als Schutzmacht zu haben, aber darüber hinaus hat auch Russland selbst beziehungsweise seine Zaren einen Expansionsdrang an den Tag gelegt. Diesen Teil der russischen Geschichte darf man nicht übersehen. Vor allem haben die baltischen Staaten, Polen und Rumänien noch im letzten Jahrhundert darunter gelitten. (Allerdings war Polen auch einmal, und zwar 1919, in der Angreiferposition.)

Immer wieder hat sich Russland auch von sich aus als Schutzmacht der – vor allem orthodoxen – Christen gesehen, wozu Russland auch heute noch eine bestimmte Neigung auf dem Balkan verspürt. Und auch wenn das heutige Russland nicht dasselbe ist wie das der Zaren oder die Sowjetunion, so versucht gerade Putin eine historische Linie aus der Vergangenheit bis zu seiner Präsidentschaft zu ziehen. Und das jüngste Verbot von Memorial, einer Organisation, die sich kritisch mit den Verbrechen der Sowjetunion und vor allem der Stalinzeit beschäftigte, verdeutlicht Putins Streben nach Kontinuität – auch hinsichtlich der imperialen Ziele.

Nato-Erweiterung: Nutzen und Gefahren

Diese historischen Erfahrungen haben jedenfalls in Ländern, die von Moskau abhängig waren, zu dem Wunsch geführt, den Schutz des Militärbündnisses Nato zu bekommen. Dieses Streben vonseiten der von russischer Dominanz befreiten europäischen Staaten stieß auf das Interesse der USA, die Nato auszudehnen. Man sollte jedenfalls die spezielle Situation der neuen EU- und Nato-Mitglieder nicht übersehen, die ein starkes Sicherheitsbedürfnis gegenüber Russland hatten und haben – nicht zuletzt aufgrund Putins Verhalten. Und dieses Bestreben traf auf die Expansionsabsichten der USA in Bezug auf die Nato.

Dem steht nicht entgegen, dass sich ein erstarktes Russland durch die Nato-Expansion eingekreist fühlt. Die Nato ist keine direkte Bedrohung Russlands, aber auch in der Politik zählen Symbole. Und die Nato vor der Haustür zu haben ist für Russland ein Zeichen der Schwäche. Das gilt besonders für den Fall, dass die Ukraine der Nato beitreten sollte. Das steht heute nicht auf der Tagesordnung, aber Putin nützt die gegenwärtige Lage aus, um die Machtbalance in Europa zu ändern.

Ein gestärkter Putin

Einerseits hat Putin wirtschaftlich zugelegt. Zwar hat er nichts unternommen, um die Wirtschaft zu modernisieren, aber die Währungsreserven sind so hoch wie noch nie. Anderseits hat die Ukraine es nicht geschafft, einen wirtschaftlichen Aufschwung und einen nationalen Einigungsprozess in Gang zu bringen. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj, von dem das viele erwartet haben, hat das nicht geschafft. Überdies ist der Westen, vor allem die USA, eher mit China beschäftigt, und das gibt Putin eine Chance, die gegenwärtige europäische Sicherheitslage zu hinterfragen. Und nicht unwesentlich: Putin hat gemerkt, dass die Zustimmung seiner eigenen Bevölkerung zu ihm selbst gesunken ist. Das beste Mittel, diese zu steigern, ist die nationale Karte zu spielen und eine Gefährdung durch einen feindlichen Nachbarn an die Wand zu malen. Das gilt besonders für autoritär regierte Länder.

Gerade die innenpolitisch autoritäre und reaktionäre Politik von Präsident Putin macht es insbesondere für die EU schwer, mit diesem Russland zurechtzukommen. Die EU beruht ja auf dem Willen, innerhalb ihrer Grenzen, aber auch darüber hinaus Rechtsstaatlichkeit und Demokratie durchzusetzen – wenn auch in einigen Mitgliedsländern selbst diese Grundwerte infrage gestellt werden.

Putin fühlt sich so stark wie noch nie. Die Nato vor der russischen Haustür zu haben ist dabei ein unpassendes Symbol der Schwäche.
Foto: Pavel BEDNYAKOV/SPUTNIK/AFP

Es ist also nicht einfach, auf die russische Drohkulisse zu reagieren. Aber vielleicht gilt es nachzuholen, was der Westen und vor allem die Nato versäumt haben. Zumindest parallel zur Nato-Erweiterung hätte man mit Russland ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem beraten und beschließen müssen. Wenn jetzt in Medien und von Wissenschaftern diskutiert wird, welche mündlichen Zusagen seitens der USA an Gorbatschow gegeben wurden, ist das ziemlich müßig. Es gab damals keine vertragliche Vereinbarung und leider auch nicht danach. Und alles, was es an Deklarationen und Memoranden wie die Charta von Paris von 1990 und das Budapester Memorandum von 1994 gab, ist von Russland verletzt worden.

Versäumtes nachholen

Was versäumt wurde, kann allerdings nachgeholt werden. Russland kann dabei nicht erwarten, dass es die USA aus Europa verdrängen kann. Aber Russland kann erwarten, dass jegliche Diskussion über eine Nato-Erweiterung ausgesetzt wird, solange über eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa ernsthaft diskutiert wird. Dabei ist sicher auch eine anerkannte Neutralität der Ukraine und von Georgien eine ernsthaft zu diskutierende Möglichkeit, beiden Staaten zu einer echten und ungefährdeten Unabhängigkeit zu verhelfen. Dabei müsste allerdings in diesen Ländern selbst ein ausführlicher Diskussions- und Umdenkprozess stattfinden.

Aber auch Russland muss seinen Beitrag zu mehr Sicherheit in Europa leisten. Seine tatkräftige Unterstützung der Separatisten im Donbass ist kein Beitrag zum Frieden. Es braucht eine völkerrechtlich einwandfreie Lösung der Krim-Frage. Russland müsste auch die Interventionen in Georgien stoppen und ernsthaft zu einer Lösung der Transnistrien-Frage bereit sein. Die Truppenmassierungen an der Grenze zur Ukraine müssen ebenfalls aufhören. Es ist nicht zu erwarten, dass Putin aufhören wird, autoritäre und korrupte Systeme in seiner Nachbarschaft (oder auch in Syrien und in Afrika) zu unterstützen. Aber er, der so sehr die Integrität der Staaten betont und sich gegen jegliche "regime change" von außen wendet, sollte das auch selbst respektieren.

Das gilt sicher auch für die USA und die EU. Der Westen wird das System Putin nicht auflösen können. Er hat ein solches System von seinem Vorgänger Boris Jelzin übernommen. Leider hat ein Teil des Westens, vor allem die USA, geholfen, ein solches System aufzubauen. So wollte man verhindern, dass Jelzin bei den Wahlen durch einen kommunistischen Kandidaten ersetzt wird. Dabei war man erfolgreich, hat aber die Grundlagen für das System Putin geschaffen, das dieser perfektioniert hat. Jetzt muss der Westen damit leben und sich darauf konzentrieren, dass im eigenen Haus die Demokratie erhalten bleibt.

Das Wohl der Menschen im Vordergrund

Es ist aussichtslos, auf kurzfristige Lösungen zu hoffen. Putin fühlt sich jedenfalls so stark wie nie zuvor. Das führt zu Androhung von Gewalt, um russische Interessen, wie er sie versteht, durchzusetzen. Leider entspricht seinem inneren System nicht eine Politik der Angebote und Anreize. Das war die westliche Methode, und dadurch hat der westliche Einfluss in Europa in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Die wirtschaftliche Stärke der westlichen Staaten hat das auch ermöglicht. Da war Russland sicher im Nachteil, aber Putin hatte auch kein Interesse, und es entspricht auch nicht seinem Verständnis von Macht, durch Angebote Freunde zu gewinnen. Seine Freunde erwarten von ihm vor allem militärische Unterstützung, sollte ihr Regime gefährdet sein. Syriens Präsident Assad, Lukaschenko aus Belarus und zuletzt der kasachische Präsident Tokajew können das belegen.

Trotz alldem ist der Westen gefordert, jetzt einen kühlen Kopf zu bewahren und eine langfristige Perspektive zu entwickeln. Was in Zeiten des Kalten Krieges möglich war, muss auch jetzt machbar sein: friedliche Koexistenz. Nun gilt es, die Erweiterungen der westlichen Welt abzusichern und es auch der Ukraine, Georgien und Moldawien et cetera zu ermöglichen, ihr politisches und wirtschaftliches System selbst zu bestimmen, wenngleich außerhalb der Nato, aber mit multilateralen Sicherheitsgarantien. Das Wohl dieser Menschen sollte im Vordergrund stehen. Es wird ein schwieriger Weg dorthin sein, aber der Westen sollte dorthin wollen und versuchen, Russland dabei mitzunehmen. (Hannes Swoboda, 26.1.2022)