Eine Selbstdiagnose auf Social Media kann professionelle Hilfe nicht ersetzen.

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Die junge Frau tanzt durch ihr Wohnzimmer. Über ihr leuchtet die mit Sternchen verzierte Überschrift "Dinge, von denen ich nicht wusste, dass sie mit ADHS zu tun haben." In rascher Folge tauchen die angeblichen Symptome auf dem Bildschirm auf: sich ein und dasselbe Lied immer wieder anhören, Stimmungsschwankungen, sich die Haut aufkratzen, mit dem eigenen Körper unzufrieden zu sein und von Selbstzweifeln geplagt zu werden. Beinahe vier Millionen Mal wurde das Video auf Instagram aufgerufen, und in den Kommentaren wiederholt sich der immer gleiche Satz: "Ich glaube, ich habe ADHS."

Es ist eines von zigtausenden Videos dieser Art. Ob Depressionen, Angststörungen, Autismus oder ADHS: Auf Tiktok und Instagram sammeln sich betroffene Nutzerinnen und Nutzer unter den entsprechenden Hashtags. Hier können sie sich informieren, vernetzen und austauschen. Tipps für Arztgespräche werden ebenso geteilt wie Witze über alltägliche Kleinigkeiten, die nur Betroffene nachvollziehen können.

Zwischen Bestärkung und Furcht

Die digitale Community erfüllt eine wichtige Funktion: Die Nutzer und Nutzerinnen erkennen, dass sie nicht alleine sind. Zudem sind die Inhalte leicht verständlich und niederschwellig verfügbar. Für junge Menschen mit dem unbestimmten Gefühl, dass "etwas nicht stimmt", ist Social Media eine komfortable erste Anlaufstelle. Leichter verständlich als Studien und offizielle Diagnosekriterien, weniger einschüchternd als die Aussicht, mit den Eltern oder einer Fachkraft über die eigenen Symptome und Sorgen zu sprechen.

Doch die Qualität der Inhalte variiert, und der Algorithmus sorgt mitunter dafür, dass entsprechende Videos und Posts auf den Startseiten von Nutzern landen, die sich noch nie damit auseinandergesetzt haben. In vielen Clips mischen sich vage Alltagsbeobachtungen mit tatsächlichen Diagnosekriterien. Wenn Kontext und Faktenbasis fehlen, kann das für Jugendliche alarmierend sein. Denn was für die einen zu einer bestärkenden Selbsterkenntnis führt, kann bei anderen die unbegründete Furcht auslösen, an einer psychischen Erkrankung zu leiden.

Selbstdiagnose via Social Media

Zu Yvonne Fischer kommen viele Jugendliche nur noch deshalb, weil sie eine offizielle Bestätigung möchten. Diagnostiziert haben sie sich bereits selbst. Die Psychologin aus Baden bei Wien arbeitet mit Kindern und Jugendlichen, die Autismus-Spektrums-Störungen oder ADHS haben. "Im Bereich des Autismus-Spektrums haben fast achtzig Prozent der Jugendlichen, die zu mir kommen, schon einen Verdacht oder haben sich selbst diagnostiziert", sagt sie. Seit etwa eineinhalb Jahren beobachtet Fischer einen deutlichen Anstieg solcher Anfragen in ihrer Praxis. Als Anstoß würden viele der Jugendlichen Fernsehserien wie "The Good Doctor" und Videos auf Tiktok oder Instagram nennen.

Doch die auf Social Media verbreiteten Symptome stimmen oft nicht mit den Klassifikationskriterien der Weltgesundheitsorganisation überein. "Als Fachperson sollte man neben all den Symptomen, die man mitunter bereits vom Jugendlichen präsentiert bekommt, nicht auf eine spezifische, genaue Anamnese und anschließende Diagnostik verzichten", sagt Fischer. "Nicht jede Unaufmerksamkeit ist sofort ein ADHS, ebenso wenig wie jede Reizüberflutung sofort eine Autismus-Spektrum-Störung kennzeichnet."

Mädchen im Spektrum

Dennoch begrüßt die Psychologin das Bewusstsein für psychische Erkrankungen, das durch Social Media entsteht. Für Jugendliche, die ihre Probleme bis dahin nicht einordnen konnten, können die Videos und Posts der Schlüssel zur Selbsterkenntnis sein. "Es kommt zu einem Umdenken von 'Ich bin komisch' zu 'Jetzt verstehe ich, wieso das so ist' – und somit zu einem liebevolleren Umgang mit sich selbst", sagt Fischer. So werden Menschen dazu animiert, sich professionelle Hilfe zu suchen, die sonst selten diagnostiziert werden. Das betrifft besonders Mädchen und junge Frauen mit einer Autismus-Spektrums-Störung.

Mädchen werden damit viermal seltener diagnostiziert als Buben. Selbst wenn erkannt wird, dass sich ein Mädchen in dem Spektrum befindet, erhält es die Diagnose im Schnitt eineinhalb Jahre später als ein ebenfalls betroffener Bub. Das liegt unter anderem daran, dass Mädchen Studien zufolge besser darin sind, ihre Symptome zu "maskieren" – also ihre Schwierigkeiten zu verbergen. Durch die Anstrengung, die das kostet, entwickeln sie häufig zusätzlich Symptome von Depressionen oder Angststörungen, was eine klare Diagnose weiter erschwert. "In meinem Praxisalltag kann ich beobachten, dass Angebote, sich unter Gleichgesinnten auszutauschen, dankend angenommen werden", sagt Fischer, die entsprechende Gruppen für Mädchen mit Autismus-Spektrums-Störungen leitet.

Ein zweischneidiges Schwert

Social Media kann für betroffene Jugendliche eine nützliche Ressource sein – solange man sich bei andauernder Problematik an einen Psychologen oder eine Psychologin wendet. Auch auf den Plattformen sind Fachleute aktiv, die sich in ihren Inhalten an ethische Grundsätze und offizielle Kriterien halten. Um diese Postings von weniger belastbaren Informationen zu trennen, hilft ein Blick in die Profilbeschreibung – hier sind die Qualifikationen meist aufgelistet. Entscheidend ist ein Bewusstsein dafür, welche Inhalte die subjektiven Erlebnisse von Betroffenen abbilden und welche auf allgemeinen Diagnosekriterien beruhen. Letztere sind in der ICD-11, dem Klassifikationssystem der WHO, gelistet und online abrufbar.

Diese Nutzerin weist auf die Unterschiede zwischen Diagnosekriterien und häufigen Erlebnissen von Erkrankten hin.

Dennoch dürfe man nicht den Blick auf das reale Leben vergessen, meint Fischer. "Es sollte immer beachtet werden, dass der Fokus meist auf einzelne Symptome gelegt wird. Die gesamte Bandbreite eines Spektrums kann in Memes oder Tiktok-Videos nicht hinreichend erfasst werden, weil die Symptome individuell ausgeprägt sind." Wenn auf Tiktok also das mehrmalige Anhören eines Liedes als ADHS-Symptom angeführt wird, ist das kein Diagnosekriterium – es kann auch sein, dass man dieses Lied einfach besonders gerne mag. (Ricarda Opis, 6.2.2022)