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Immer mehr junge Menschen fühlen sich einsam – und das nicht erst seit der Pandemie.

Foto: Getty Images / Yiu Yu Hoi

Als die Abgeschiedenheit in der Pandemie zum neuen Idealzustand wurde, blieb das nicht ohne Folgen: Während des ersten Lockdowns 2020 fühlten sich laut einer Studie der Uni Wien bis zu 43 Prozent der Menschen in Österreich manchmal einsam. Corona hat jedoch nur einen Zustand verschärft, der schon davor verbreitet war, meint die deutsche CDU-Politikerin Diana Kinnert. Sie lobbyiert seit Jahren für Anti-Einsamkeits-Politik und hat 2021 das Buch Die neue Einsamkeit veröffentlicht. Im Gespräch mit dem STANDARD erklärt sie, warum wir immer beziehungsunfähiger werden, was das mit dem Kapitalismus zu tun hat und wie wir aus der kollektiven Einsamkeit wieder herauskommen könnten.

STANDARD: Denkt man an Einsamkeit, hat man dabei meist ältere, alleinstehende Menschen vor Augen. Was ist die neue Einsamkeit?

Diana Kinnert: Einsamkeit und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen werden schon länger besprochen, aber in einem klassisch veralteten Bild. Auf Google findet man dazu nur Bilder von Senioren, die alleine spazieren gehen oder auf der Parkbank sitzen. Dabei sind Erhebungen zufolge viel mehr Gruppen betroffen als nur ältere Personen. Das hat mich zu einer Neudefinition geführt: dass Einsamkeit nicht nur mit Verwaistsein zu tun hat, sondern auch mit Beziehungshemmnissen. Viele Menschen fühlen sich abgesondert, obwohl sie eigentlich in eine Menge eingebunden sind. Und es gibt gesellschaftliche Bedingungen, die das befördern.

STANDARD: Welche gesellschaftlichen Bedingungen sind das?

Kinnert: Es sind die Auswirkungen der Individualisierung. Die ist zwar zuallererst einmal gut, weil sie viele Menschen aus Zwängen befreit und persönliche Selbstentfaltung ermöglicht. Gleichzeitig findet damit aber eine Unverbindlichkeit Einzug, die sich negativ auf unsere Lebensplanung auswirkt. Bei meinen Eltern verlief alles linear: Sie haben einen Kredit bekommen und abbezahlt, haben gespart und wurden befördert – die ganze Lebensplanung war wirtschaftlich gedeckt. Heute ist das so nicht mehr möglich. Die disruptive Arbeitsweise und die Digitalisierung überfordern uns und erlauben uns nicht mehr, echte Beziehungen zu führen.

STANDARD: Was ist an unserer Arbeitsweise so problematisch?

Kinnert: Das hat mit Arbeitsteilung und dem Aufweichen von Verbindlichkeit zu tun. Im Berufsalltag geht es viel um kleine Gesten: Der Chef wird geduzt, und es gibt einen Gratis-Obstkorb, aber bitte keinen Betriebsrat gründen. Verantwortung, die über gesetzliche Pflichten hinausgeht, erlischt. Auch Homeoffice muss unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Es scheint komfortabel und erlaubt Flexibilität, zugleich aber profitieren Arbeitgeber, wenn Arbeitnehmer voneinander separiert werden. Wer einander nicht kennt, kann sich nicht austauschen, kann nicht aufbegehren oder gemeinsam streiken. Die Solidarität der Arbeitnehmer wird bewusst zerschlagen.

Diana Kinnert studierte Politikwissenschaft und Philosophie in Göttingen, ist Unternehmerin und CDU-Politikerin ohne Mandat.
Foto: Dominik H. Müller

STANDARD: Sie schreiben, diese Vereinzelung kann auch eine Gefahr für die Gesellschaft sein. Welche Effekte spüren wir da bereits?

Kinnert: Ich glaube, Demokratie funktioniert nur, wenn sich Bürgerinnen und Bürger als Gemeinschaft empfinden. Wir spüren hingegen schon Zersplitterung und Polarisierung. Das beste Beispiel sind derzeit die Impfgegner, wir hatten das auch schon bei der Flüchtlingsherausforderung und beim Klimawandel. Man sollte bei diesen Phänomenen Einsamkeit als Komponente bedenken. Denn wenn Menschen das Gefühl haben, alle anderen sind eine Gemeinschaft, nur ich gehöre nicht dazu, dann fühlen sie sich minderwertig und ausgeschlossen.

STANDARD: Und das nutzen vor allem rechte Bewegungen oft für sich?

Kinnert: Bewegungen wie Pegida und die AfD in Deutschland sind für viele Menschen ein sozialer Ort, bei dem sie mitmachen können, selbst wenn sie inhaltlich gar nicht zustimmen. Wenn man sonst nur Ablehnung erfährt, entsteht Frust. Viele nutzen dann ihre demokratischen Rechte, um diesen Frust auszuleben. Sie wählen Rechtspopulisten, weil das die sogenannte Elite am meisten stört. Im Extremfall schlägt dieses Rachegefühl in ein derart aggressives Verhalten um, dass Attentate passieren. Der ultimative Racheakt an einer Gesellschaft, in der ich mich minderwertig fühle.

STANDARD: Wie können wir die Beziehungsfähigkeit des und der Einzelnen stärken, damit es erst gar nicht so weit kommt?

Kinnert: Die Lösung muss eine gesunde Beziehungsgestaltung sein. Es nützt nichts, mit allen verbunden zu sein, sich aber niemals aufrichtig austauschen zu können. Jede Beziehung braucht Vertrauen und Verständnis füreinander und auch ein Zutrauen, jemandem die Stirn zu bieten. Die vergangenen Weihnachtstage waren für viele eine Herausforderung: Wie umgehen mit den eigenen Verwandten, die politische Anschauungen nicht teilen? Etwa mit dem Onkel, der Impfgegner ist und der Regierung misstraut? Neben dem familiären Kontext gibt es auch eine gesamtgesellschaftliche Ebene, die aufgearbeitet werden muss. Was sind meine Erwartungen an den Staat oder an eine Partei?

STANDARD: Was kann die Politik tun? Brauchen wir ein Einsamkeitsministerium?

Kinnert: Ich bin kein Fan von kosmetischen Projekten. Politik kann Beziehungen nicht diktieren. Es hilft, wenn es einen Ansprechpartner und das Budget dazu gibt. Aber Einsamkeit muss politisch ganzheitlich und interdisziplinär gedacht werden. Zum Beispiel bei Migration. Politik muss Voraussetzungen für Integration garantieren, wie beim Spracherwerb oder im Arbeitsrecht. Dann entstehen keine Parallelgesellschaften. Auch bei demografischen Entwicklungen und der Digitalisierung sollte Einsamkeit mitgedacht werden. Gerade die ältere Generation wird bei digitaler Anbindung gar nicht angesprochen. Und dann gibt es noch viele weitere politische Fragen wie Nachhaltigkeit und Klima, bei denen wir sehr polarisiert und stigmatisierend miteinander umgehen. Einsamkeit im Sinne von Integration und Partizipation ist in jedem Politikfeld relevant.

STANDARD: Was empfehlen Sie jemandem, der oder die gerade einsam ist?

Kinnert: Es ist tröstend zu wissen, dass man mit dem Einsamsein nicht alleine ist. Es geht sehr vielen Menschen auf der Welt ganz genau so. Doch es gibt kein einzelnes Rezept gegen Einsamkeit, denn sie hat tausend Gesichter. Mal sind es missbräuchliche Beziehungen im persönlichen Umfeld, mal ist es die Stigmatisierung in einer intoleranten Gesellschaft, mal ist es das berufliche Scheitern im Kapitalismus. Einsamkeit hat oft mit einem minderwertigen Selbstwertgefühl zu tun. Ein erster Schritt kann sein, sich seine Situation einzugestehen und Menschen zu finden, mit denen man ehrlich und schambefreit darüber sprechen kann. (Davina Brunnbauer, 4.2.2022)