Sandra Hill im Jahr 2011. "Lieber sterbe ich am Everest als beim Überqueren der Madison Avenue zwischen Armani und Versace", sagte Sandra Hill zur "Vogue". Sätze wie diese deutete "Der Spiegel" als ein "Auftrumpfen".

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Rund um den höchsten Berg der Welt, den Mount Everest, ranken sich viele Heldengeschichten. Mensch – oder besser gesagt: Mann gegen Berg, Mann gegen die Natur. Natürlich waren auch schon viele Frauen oben, doch ihre Geschichten fallen oft um einiges weniger heroisch aus. Das zeigt schon die erste Everest-Besteigung durch eine Frau im Jahr 1975, die Japanerin Junko Tabei. Tabei gab damals unumwunden zu, dass sie es ohne ihre Sherpas nicht geschafft hätte. Das gilt freilich auch für zahlreiche Männer, die ohne Hilfe weder raufgekommen wären, noch überlebt hätten – aber warum eine schöne Heldengeschichte zerstören?

Wie unterschiedlich Erzählungen und Interpretationen über Leistung, benötigte Hilfe oder das Verhalten in 7.000 Meter Höhe aufwärts ausfallen, zeigen Berichte über die 34. Frau auf dem Everest: Sandra Hill. Sie war Teil eines der beiden kommerziellen Expeditionsteams, die bei der Besteigung des Mount Everest am 10. und 11. Mai 1996 von einem plötzlichen Wetterumschwung überrascht wurden. Neun Bergsteiger*innen verloren dabei ihr Leben – darunter auch professionelle und erfahrene Bergsteiger wie die beiden Leiter der Expeditionen, Rob Hall und Scott Fischer. Sandra Hill überlebte.

Die Lady am Berg

Dieses Ereignis wurde medial aus verschiedenen Gründen besonders beachtet. Es waren jene Jahre, in denen kommerziell geführte Touren auf den Everest mehr und mehr wurden – es gab Debatten über schlecht vorbereitete Amateur*innen, die nur viel Geld zahlen müssten, um auf den höchsten Berg der Welt zu kommen. Zunehmend wurde Kritik laut, dass das zu gefährlichen Staus auf dem Weg nach oben führe und die dortigen Müllberge durch die kommerziellen Touren anwüchsen. Sandra Hill passte hierfür genau ins Bild. Die Mode- und Beautyredakteurin und damalige Ehefrau von MTV-Mitbegründer Robert W. Pittman galt vorrangig als "Society-Lady".

Dass Hill aber schon seit jungen Jahren begeisterte Bergsteigerin war und viele anspruchsvolle Touren bewerkstelligte – darunter auch die Seven Summits, die jeweils höchsten Gipfel auf jedem Kontinent –, zählte kaum. Ungeachtet ihrer Bergerfahrung rückten viele Berichte über das Unglück am Mount Everest Sandra Hill vor allem als Luxuslady ins Licht. Die "Bergfee", wie es beispielsweise hieß, habe unnötigen Krempel wie "Vogue"-Zeitschriften, eine Espressomaschine inklusive präferierter Kaffeebohnen und ein TV-Gerät ins Basislager schleppen lassen. Das schien hervorragend zur aufflammenden Kritik zu passen, dass nun immer mehr reiche Amateur*innen den Everest bevölkern würden.

Der US-amerikanische Journalist Jon Krakauer trug maßgeblich dazu bei, dass dem Unglück von 1996 besonders viel Beachtung geschenkt wurde. Krakauer nahm an der zweiten Expedition teil, jene von Rob Halls "Adventure Consultants", die gleichzeitig mit Scott Fischers Team zum Gipfel aufbrach, in dem Sandra Hill war. Anders als Hill war Krakauer nicht als zahlender Gast dabei. Krakauer sollte über die zunehmenden kommerziell organisierten sündteuren Touren auf den Everest berichten. Mindestens 65.000 Dollar kostete die Teilnehmer*innen so eine Tour.

Von Vorurteilen vernebelter Blick

Krakauer veröffentliche 1997 sein Buch "In eisigen Höhen" ("Thin Air: A Personal Account of the Mt. Everest Disaster"), in dem er das Scheitern und eine für alle in den Teams gefährliche körperliche Schwäche vorwiegend an Sandra Hill erkannt haben will. Es habe mühsam sein können, Sandra Hill in der Nähe zu haben, schreibt Krakauer. Sie habe immerzu über sich selbst geredet und es gebraucht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

Textstellen wie diese legen nahe, dass sein Blick auf die körperliche Verfassung seiner Mitstreiter*innen damals am Everest von einigen Vorurteilen vernebelt war. Die ebenfalls massiven Schwierigkeiten männlicher Kollegen wurden ihnen nicht als Charakterschwäche ausgelegt, wie Krakauer das bei Hill tat. Dabei waren freilich auch die Männer in den Expeditionsteams auf massive Hilfe angewiesen – doch nur Hill hätte der ihr zugeteilte Sherpa Lobsang Jangbu praktisch tragen müssen. Zeitweilig hätte sie nur noch kriechen können, erzählte Krakauer und unterstellte ihr unterschwellig eine Mitschuld an dem Drama auf dem Everest – etwa weil die Sherpas nicht die nötigen Seile anbringen konnten, da sie noch mit Sandra Hill beschäftigt gewesen seien.

Hill wurde nach Erscheinen des Buches von Krakauer massiv angefeindet. Andere Bergsteiger, die bei den Touren mitgingen und es ebenfalls gezogen, getragen oder nur mit viel Körperkraft anderer heil ins Basislager schafften, wurden nicht derart schlecht ins Bild gerückt.

In diesem Ton berichtete auch "Der Spiegel", noch bevor Krakauers Buch erschien. Jangbu Lobsang habe Sandra Hill "an heiklen Stellen wie einen Sack Schrauben hinaufgestemmt". Der Russe Anatolij Bukrejew, der in diesen Stunden fünf Menschen das Leben rettete, habe die New Yorkerin auf dem Eis ziehen müssen, weil sie nicht mehr habe gehen können – allerdings: so wie andere auch beim Abstieg in diesem Mai 1996.

Weniger oft berichtet wurde, dass es ebendieser Anatolij Bukrejew war, der Hill als fähige Alpinistin mit guter Kondition einschätzte. Stattdessen wurde immer wieder die "Schwäche" Hills betont, ebenso wie das Detail, dass sie ihren 13-jährigen Sohn beim Aufbruch zum Everest zurückgelassen habe. Schließlich habe ihre "Everest-Besessenheit" auch ihre Ehe mit Robert W. Pittman zerstört. Wie viele Kinder welchen Alters die anderen Bergsteiger bei der Tour zurückließen, das blieb in den Medienberichten freilich unerwähnt.

"Vogue" und Pornohefte

Krakauer erzählte auch, dass Hill im Verlauf des schwierigen Abstiegs samt Verirrungen und heftigem Sturm erschöpft in die Knie gegangen sei. Und? Immerhin sei auch Krakauer selbst zu nichts mehr in der Lage gewesen, habe sich in einem Zelt ausgeruht und niemandem mehr helfen können, sagt die Münchner Autorin Luisa Francia. "Das ist verständlich, Vorwürfe gegen ihn erhob niemand", so Francia. Und zu Hills Gourmetproviant und "Vogue"-Zeitschriften im Basislager sagte Francia: Warum Hill die "Vogue" im Basislager vorwerfen, wenn doch zahllose Alpinisten ganz selbstverständlich auch ihre Pornohefte ins Lager mitbringen?

2015 erschien der Film "Everest", der das Unglück aus dem Jahr 1996 nochmal als Spielfilm erzählte. Im Gegensatz zu Berichten aus den 1990er-Jahren ging man in diesem Film mit stereotypen Bildern deutlich vorsichtiger um. Es ist eigentlich völlig hirnrissig, in diese gefährliche Höhe aufzusteigen – eine Höhe, für die der menschliche Körper schlicht und einfach nicht geschaffen ist. Doch die Protagonisten in "Everest" zeigen beispielhaft, wie sehr diese heroischen Vorstellungen des Sich-selbst-Übertreffens und -Überschreitens noch immer mit Männlichkeit verzahnt sind.

Völlig egal, ob das einfach ein reicher Mann ist, der sich den Everest zum runden Geburtstag schenkt, oder ein Arbeiter, der vergünstigt die Tour mitmachen kann, weil er meint, es einfach da rauf schaffen zu müssen. "Warum?" fragt in dem Film Jon Krakauer, der im Film übrigens sehr sympathisch dargestellt wird. "Warum tut man sich das an?" "Weil ich es kann", antwortet ebenjener Arbeiter, der später einer von jenen ist, die es leider nicht lebend zurückschaffen.

So ehrenhaft und salbungsvoll diese Risikobereitschaft bis hin zur Todesverachtung für Männer zu sein scheint, so schnell kann sie Frauen um die Ohren fliegen. Einfach nur, weil sie exakt dasselbe wollen. Warum auch immer. (Beate Hausbichler, 28.1.2022)