Die französische Bestsellerautorin Yasmina Reza schickt in ihrem neuen Roman eine jüdische Familie aus Paris nach Auschwitz. Das geht nicht ohne abgründigen Witz.

Pascal Victor / ArtComPress

Sich über Gedenkkultur lustig zu machen ist heikler Stoff, selbst in einem Roman. Handelt es sich dabei aber um die heute zum Touristenhotspot gewordene Stätte des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz und eine Autorin aus einer jüdischen Familie, dann darf man sich die ersten Schweißperlen doch von der Stirn wischen.

Yasmina Reza, 1959 in Paris geboren und seit den 1990er-Jahren durch ihre Theaterstücke wie Kunst oder Drei Mal Leben populär geworden, beherrscht den maliziösen Tonfall politischer Unkorrektheit. Dialoge schaukeln sich langsam, aber sicher bis zur Eskalation hoch. Katharsis pur. Ihr jüngster Roman Serge, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert, umreißt mit autobiografischen Anleihen eine jüdische Familie aus Paris, die sich trotz inhomogener Bereitschaft dazu aufmacht, das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz zu besuchen, um ihren dort ermordeten (ungarischen) Verwandten Tribut zu zollen.

Expedition nach Auschwitz

Nach dem Tod der Großmutter ist es vor allem Enkelin Joséphine, die sich diese gemeinsame Reise für die Familie Popper wünscht: für sich selbst, für ihre Tante Nana, ihren Onkel Jean, den gemütlosen Ich-Erzähler, und insbesondere für ihren eigenen Vater, den titelgebenden Serge, einen sturen Lebemann, der null Interesse daran hat, sich wie alle anderen am Gedenken zu "berauschen". Er reizt jede Grenze aus. Und dennoch fährt er mit, ist es doch ein Wunsch der Tochter.

Rappelkopf Serge, sechzig Jahre alt, geschieden, neu liiert, schon wieder getrennt, hat mit Gedenkkultur nichts am Hut. Wie auch der Rest der Familie, die ihren jüdischen Wurzeln keine Bedeutung beimisst und die in erster Linie ihr Franzosentum und darin wiederum das aufgeklärte Parisertum hochhält, das einzige wirklich markante identitätsstiftende Merkmal (Weinsorten werden namentlich genannt).

Papa, schau, die "Judenrampe"

Nicht einer speziellen Gruppe anzugehören, schon gar nicht einer mit Opferstatus, dafür traf die Großmutter zu Lebzeiten alle Vorkehrungen. Ihre drei Kinder, die Popper-Geschwister (darunter Serge), hat sie ohne Affinität zum Judentum erzogen. Keine Bar Mizwa für die Söhne. Für ihr eigenes Ableben sah die Oma eine Einäscherung vor, eine von der Familie angesichts der Massenvernichtung in Verbrennungsöfen als "verrückt" eingestufte Entscheidung. Immer wieder knallt der Roman solche Momente absoluter Chuzpe hin, und diese Dynamik reißt nie ab. Etwa auch der rückblickend eingefangene Streit zwischen den Großeltern, in dem der Großvater die Großmutter des Antisemitismus bezichtigt. "Sie ist doch Jüdin", wandten die Kinder ein. "Das sind die Schlimmsten!", so er.

"Papa, komm her, schau! Das ist die Judenrampe!" – vor Ort in Auschwitz angekommen, spitzt sich Serges Ablehnung der zur Touristendestination mit Sensationsfaktor gewordenen Gedenkstätte zu. Während die jüngste Generation neugierig und mit Smartphone bewehrt von Vergasungs- zu Verbrennungsraum streift, entzieht sich die Elterngeneration dem Anblick. Und Reza lässt klugerweise die Möglichkeit offen, ob diese Ablehnung nicht auch in einer tiefsitzenden Angst vor dem Grauen begründet liegt.

Den vielleicht genialsten Satz deponiert Serge gegen Ende hin, wieder retour in Paris: "War dieses Auschwitz wirklich nötig?" Die rhetorische Frage bezieht sich auf die soeben absolvierte Expedition der Familie; mit schwingt aber auch das völlig unverhältnismäßige Abtun der Existenz eines Vernichtungslagers – ein abgründiger Witz, aus dem dieses Buch seine Energie bezieht und mit dem es einen waghalsigen Befreiungsschlag vollzieht, heraus aus der Opferidentität.

Sterbensbereite Spaßvögel

Der Roman verhöhnt nicht die Ermordeten, er ist viel eher ein Schuss vor den Bug rechter und rechtsradikaler Verhöhnungen.

Serge ist zugleich auch ein prächtig abschnurrender, kompakter Gesellschaftsroman rund um eine temperamentvolle bürgerliche Familie und ihre illustren Freunde, darunter neunundneunzigjährige sterbensbereite Spaßvögel und Charakterköpfe. Hier fließt auch Rezas ganzer Instinkt für die zwistbesetzten Zeitgeistthemen ein, die in den meinungsstarken urbanen Kreisen die Köpfe zum Rauchen bringen.

Allein die Passage zur Suppendiät, der sich der wohlstandsgezeichnete Serge in der Schweiz unterziehen soll, löst einen geradezu bernhardesken Schimpffuror aus: "Sechstausend Euro für Selleriesuppe!" Und es spielt sich hier in gewohnt deftiger Art auch Big Drama im Affären-Universum ab: "Der Typ kauft sich sein kleines Feiglings-Wiko (ein Smartphone, Anm.) und zieht sich seelenruhig die Maklerschlampe rein."

Ein deftiges, zugleich leichtes und vor allem befreiendes Buch. (Margarete Affenzeller, 27.1.2022)