Benedikt XVI. war von 2005 bis 2013 Papst. Die Vorwürfe betreffen seine Zeit als Erzbischof von München.

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Dem berühmtesten Sohn der Gemeinde entkommt man in Marktl nicht. "Grüß Gott – Geburtsort von Papst Benedikt XVI." heißt es auf dem Schild beim Ortseingang. "Geburtshaus/Birthplace" steht auf dem nächsten. Ein Pfeil weist auch den Weg zu jenem stattlichen Haus, in dem Joseph Aloisius Ratzinger am 16. April 1927 das Licht der Welt erblickte. "Auf unseren Papst sind wir sehr stolz", sagt ein Mann in den Dreißigern. Aber in seiner Stimme schwingt Sarkasmus mit.

Seit die Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl in der Vorwoche ein von der Erzdiözese München und Freising in Auftrag gegebenes Gutachten über Missbrauch vorgelegt hat, herrscht Aufruhr unter Katholiken. "Jeder weiß, dass in der Kirche im Laufe der Jahrhunderte jede Menge Schweinereien passiert sind, aber das jetzt ist schon eine besondere Dimension", meint ein Mann, der seinen Namen auf keinen Fall nennen will. Denn: "Das bringt nur Ärger."

Den hat der emeritierte Papst auch. In vier Fällen, so liest man es im Gutachten, habe er in seiner Zeit als Erzbischof von München (1977 bis 1982) nichts gegen des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen.

Und seither stehen im deutschen Marktl am Inn im Landkreis Altötting die Telefone nicht mehr still. Natürlich möchten sehr viele nun von Bürgermeister Dittmann, der mit Vornamen auch noch Benedikt heißt, wissen, wie Marktl jetzt mit der Situation umgeht.

Der Ort ist Papst

Es ist nämlich nicht so, dass in Marktl bloß ein paar Hinweisschilder auf das Geburtshaus des Papstes verweisen: Der Ort ist Papst. Hätte man einen Papst-Geburtsort auf dem Reißbrett entwerfen müssen, er würde vermutlich aussehen wie die 2800-Einwohner-Gemeinde.

Das Elternhaus, die Taufkirche, das Rathaus mit dem Heimatmuseum ("Geschenke von Papst Benedikt"), Tourist-Info mit Dauerausstellung liegen praktischerweise alle nur drei Schritte auseinander und bilden das Zentrum des Ortes. Dort prangt auch die 4,20 Meter hohe "Benedikt-Säule" in Bronze in Form einer Schriftrolle.

"Missbrauch von Kindern ist absolut zu verurteilen. Ich erwarte, dass unser Bürgermeister Vorschläge machen wird, wie Marktl damit umgeht. Dann können wir gemeinsam ein Konzept erarbeiten", sagt Gemeinderat Max Gschwendtner von der Bürgerliste Marktl (BLM).

Eine ähnliche Erwartung hat auch eine Frau Anfang 40, die ihren Namen ebenfalls partout nicht in der Zeitung lesen will. "Das kann doch hier so nicht stehen bleiben, wir machen uns komplett lächerlich", sagt sie und deutet auf die Tourist-Info.

Dort befindet sich eine Ausstellung, die Bilder vom vermutlich größten Tag Marktls zeigt – abgesehen natürlich vom 16. April 1927, dem Geburtstag Benedikts. Es ist eine Schau über den 11. September 2006.

Keine Stellungnahme im Rathaus

Damals war Benedikt seit knapp eineinhalb Jahren Papst und kam zum ersten Mal als solcher nach Marktl. "Er kniet vor seinem Taufstein nieder und betet", heißt es unter einem entsprechenden Foto. Zu sehen sind auch "Begegnungen, die für immer in Erinnerung bleiben": Der Heilige Vater segnet ein Kleinkind.

Auskunft zur Causa prima gibt es im Rathaus von Marktl jedoch nicht. "Wir sagen derzeit gar nichts", heißt es dort. Zunächst müsse man die Entwicklungen abwarten, an diesem Donnerstag wird sich in München der amtierende Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, zum Gutachten äußern.

Er hat sich vor einigen Tagen in einer ersten Stellungnahme "erschüttert und beschämt" gezeigt und jene, denen von der Kirche Leid angetan worden ist, um Entschuldigung gebeten.

Da in Marktl in der Gemeindestube kein Weiterkommen ist, möchte man sich gern an den ersten Vorsitzenden des Vereins "Verantwortung übernehmen – Freundeskreis Marktl am Inn, Geburtsort Papst Benedikt XVI." wenden. Der Verein hat sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, "die Diskussion über die moralischen Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens im 21. Jahrhundert in Gang zu halten". Doch der Vorsitzende ist der Bürgermeister – also erneut keine Auskunft.

Auch im Geburtshaus, einer Begegnungsstätte, bleibt die Bitte um Stellungnahme unbeantwortet. Aber Marktl ist klein. Wenn man geduldig wartet und an diversen Stellen immer wieder fragt, dann erfährt man – natürlich streng unter der Hand – doch ein bisschen was. Sehr unangenehm sei das alles – nämlich dass sich die Presse jetzt so auf die Angelegenheit stürze. Der Papst sei ein alter, kranker Mann, der viel für die Kirche getan habe. Natürlich könne er sich nicht mehr erinnern, ob er vor 42 Jahren an einer Sitzung teilgenommen habe. Bedauern für die Opfer ist nicht zu vernehmen.

Es geht dabei um eine Ordinariatssitzung im Erzbistum München am 15. Jänner 1980, in der der Fall des Priesters H. zur Sprache gekommen sein soll. Dieser war zuvor in Nordrhein-Westfalen tätig gewesen und hatte dort Kinder missbraucht. Dennoch durfte er – unter Ratzinger – in München wieder in der Seelsorge arbeiten.

Zuerst hatte der emeritierte Papst den Münchner Gutachtern erklärt, er sei bei der Sitzung nicht dabei gewesen, sich dann aber korrigiert und betont, der Fehler sei "nicht aus böser Absicht heraus geschehen", sondern "in Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme". Wie es dazu kam, soll noch extra erklärt werden.

"Du sollst NICHT LÜGEN! Das 8. Gebot gilt auch für den Papst", schreit es derweil von Seite eins der Bild-Zeitung. Diese steckt, gut sichtbar, im Zeitungsständer der Bäckerei.

Von der Kanzel predigen

Dass vom 94-jährigen Papst persönlich wohl nicht mehr viel zu erwarten sei, glaubt auch eine 74-jährige Pensionistin, die ebenfalls namenlos bleiben will. Aber sie setzt auf den Münchner Erzbischof Marx: "Der muss dringend aufklären. Die Zeiten, in denen einfach von der Kanzel gepredigt wurde und das Volk zu allem ,Amen‘ gesagt hat, sind vorbei. So kann man heute nicht mehr mit den Gläubigen umgehen."

Der Meinung sind offensichtlich viele in Bayern. Dort verzeichnen die Standesämter derzeit regen Andrang, weil mehr Menschen als sonst aus der Kirche austreten wollen. "Ich bleibe, auch wenn es mir schwerfällt", sagt ein Mann in der Taufkirche von Marktl. Aber er hat eine Idee, wie die Gemeinde Marktl reagieren sollte: "Sie muss die Angelegenheit thematisieren und darf sie nicht totschweigen. Benedikt könnte ja beides sein: ein großer Kirchenmann und einer, der Fehler gemacht hat." (Birgit Baumann aus Marktl am Inn, 27.1.2022)