"Großvater Béla sandte mich hierher, um in seinem Namen zu sagen, dass die Juden nicht aufgegeben haben", sagte der israelische Außenminister Yair Lapid am Mittwoch in Mauthausen. DER STANDARD bringt die Rede im Wortlaut.

Yair Lapid bei seiner Rede in Mauthausen. Im Hintergrund: Kanzler Karl Nehammer, die Minister Alexander Schallenberg und Gerhard Karner sowie Landeshauptmann Thomas Stelzer.
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Die meisten Leute wissen nicht, wann sie vom Kind zum Erwachsenen wurden. Mein Vater wusste es. Er wurde in der Nacht vom 18. zum 19. März 1944, im Alter von zwölf Jahren, zum Erwachsenen.

Um sechs Uhr in der Früh war Vater noch ein Kind. Er schlief im großen Bett unter der großen Decke, neben seinem Vater, meinem Großvater.

Mein Großvater war ein beleibter Mann, und sein Atem war ein vertrautes, beruhigendes Metronom in der Welt, die verrückt geworden war. Um genau sechs Uhr in der Früh hörte mein Vater seine Großmutter Hermina. Sie sagte zu jemandem auf Deutsch: ,Ja, bitte, bitte‘, und die Tür zum Schlafzimmer wurde geöffnet. Sie sagte zu meinem Großvater: ,Béla, ein deutscher Soldat will dich bei der Tür sehen.‘

Der Soldat wartete nicht. Er folgte ihr ins Schlafzimmer, in der Hand ein Gewehr, in einer grünlich-grauen Uniform, mit den Buchstaben SS am Kragen, bemerkenswert nett. Er sagte: ,Doktor Lampel, bitte ziehen Sie sich an.‘ Mein Großvater erhob sich und zog sich an. Er sagte zu seiner Mutter: ,Die Tasche‘, sie ging hinaus und kam mit einer Tasche wieder zurück. Einpacken war nicht notwendig. Seit dem Beginn des Krieges hatte jeder Jude, jede Jüdin in Europa eine fertig gepackte Tasche bereit.

Meine Urgroßmutter machte ein, zwei Schritte in Richtung des blonden Soldaten mit dem Bajonett, und als sie wirklich nahe an ihm war, stützte sie sich am Betthaupt ab und kniete sich langsam, wie es alte Leute machen, nieder. Der Deutsche schwieg. Sie umarmte seine Knie, klammerte sich an seine polierten Stiefel. Sie hob ihren Kopf, suchte seine blauen Augen. ,Mein Herr‘, sagte sie, ,vergessen Sie nicht, dass auch Ihre Mutter auf Sie zu Hause wartet.‘ Und dann fügte sich noch hinzu: ,Gott möge Sie segnen.‘

Für einen Moment verzerrte sich das Gesicht des Deutschen, dann nickte er zu meinem Großvater. Es ist Zeit. Mein Großvater neigte sich zum Bett hinunter und hob die Decke meines Vaters. Vater weinte. Er umarmte meinen Vater und sagte die Worte, die meinen Vater zu einem erwachsenen Mann machten: ,Mein Kind‘, sagte er, ,entweder sehe ich Dich lebend wieder oder gar nicht.‘

Er sah ihn nie wieder.

Mein Großvater wurde nach Auschwitz deportiert und danach hierher, nach Mauthausen. Als er hier ankam, war er kein Vater mehr, er war nicht mehr beleibt, er war keine Person mehr. Er war eine Nummer. Die Nazis bemühten sich sehr, ihre Gefangenen mit Nummern zu versehen.

Mein Großvater hatte, wie jeder, der nach Auschwitz kam, eine Nummer auf seinen Arm tätowiert. In den Archiven herrschte Ordnung. Auf zehntausenden Seiten wurden die Gefangenen sorgfältig dokumentiert. Sie taten dies, damit sie zu sich selbst sagen konnten: ,Das ist nicht Mord, das ist Statistik.‘ Dass sie keine Menschen umbrachten, die ihnen nichts getan haben, sondern bloß Nummern aus einem Buch löschten.

Ich bin heute hierhergekommen, um die Welt daran zu erinnern, dass Béla Lampel keine Nummer war.

Er war mein Großvater. Er liebte seine schöne Ehefrau. Er ging mit seinem Sohn zu Fußballspielen. Er liebte es, ein Omelett zu essen, im Kaffeehaus, nahe seinem Haus. Er hat nie jemandem Unrecht getan. Er war kein bekannter Mann. Er hasste niemanden. Er war einfach nur… Jude.

Daher holten sie ihn in der Mitte der Nacht und schickten ihn von einem Konzentrationslager in das nächste, bis er hierherkam. Bei seiner Ankunft wussten die Nazis bereits, dass sie den Krieg verloren hatten. Der mächtige Apparat, die deutsche Armee, war am Ende. Sie brauchten jeden Soldaten, jedes Stück Brot, jedes Gewehr – und trotzdem ermordeten sie Juden bis zum allerletzten Moment.

Den Aufzeichnungen von Mauthausen nach starb mein Großvater im April 1945. Einige Wochen später, am 7. Mai 1945, kapitulierte Nazideutschland. Dies war die letzte wesentliche Sache, die die Nazis taten – meinen Großvater zu ermorden.

Aber sterben war nicht die letzte wesentliche Sache, die er tat. Es gab noch eine andere Sache, auch wenn erst nach seinem Tod: Er schickte mich heute hierher.

Großvater Béla, ein ruhiger Mann, der in der Familie ,Béla, der Weise‘ genannt wurde, sandte mich hierher, um in seinem Namen zu sagen, dass die Juden nicht aufgegeben haben. Sie haben einen starken, freien und stolzen Jüdischen Staat geschaffen, und sie haben seinen Enkelsohn entsendet, um sie hier heute zu repräsentieren.

Die Nazis glaubten, dass sie die Zukunft wären und dass man Juden nur mehr im Museum finden würde. Stattdessen ist der Jüdische Staat die Zukunft und Mauthausen eine Gedenkstätte.

Ruhe in Frieden, Großvater, du hast gewonnen. (Yair Lapid, 27.1.2022)