Allen Meldungen über eine vermeintlich politikverdrossene Jugend und die vielen Krisen auf dem Kontinent zum Trotz gibt es sie natürlich: die jungen Europäerinnen und Europäer, die hoffnungsvoll in die Zukunft blicken; die sich mit dem Status quo nicht abfinden wollen und die Europäische Union sowie das Leben in der EU teils grundlegend verändern wollen. Meist sind sie auch gar nicht politikverdrossen, viel eher parteienverdrossen oder – wie im konkreten Fall der EU – institutionenverdrossen. Das beweisen nicht zuletzt etliche Klimastreiks, die in den vergangenen Jahren trotz der Pandemie immer wieder stattfanden.

Dennoch sind es eher die, die ohnehin schon proeuropäisch sind, die sich für eine tiefere, eine stärkere EU einsetzen. Sie kennen die Schwächen, wissen aber freilich auch um die vielen Vorzüge unter der blauen Flagge mit den zwölf gelben Sternen. Sie wissen um die lähmende Wirkung des Einstimmigkeitsprinzips im Europäischen Rat, aber eben auch um die Vorteile wie Reisefreiheit, günstiges Telefonieren und Surfen oder Frieden.

Aber welche EU wollen die Jungen? Was schwebt ihnen vor? Einen Aufschluss darüber gibt der europäische Jugend-Ideen-Bericht, der Ende des vergangenen Jahres bereits zum vierten Mal erschienen ist. Der Bericht ist ein ausgewähltes und durch ein Präsenz- sowie Onlinevoting abgesegnetes Best-of von mehr als 1500 eingesendeten Ideen junger Menschen.

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Weite Teile der Jugend stehen hinter der EU, sie wollen aber auch eine andere EU.
Foto: Jakub Orzechowski/Agencja Gazeta via REUTERS

Wenig überraschend ist einer der größten Brocken im Bericht der gesamte Klimakomplex. Die von Fridays for Future getragene und geprägte Generation macht mehrmals deutlich klar, dass man nicht gewillt ist, die reinen Lippenbekenntnisse der vergangenen Jahrzehnte weiter zu akzeptieren. Stattdessen fordert die Jugend konkrete Schritte.

So soll die EU etwa so schnell wie möglich ein System entwickeln, das den an der Umwelt verursachten Schaden effektiv bemisst und erstmals Unternehmen dementsprechend zur Verantwortung zieht. Jegliche Förderungen für fossile Energieträger sollten zudem sofort gekappt und in Richtung Erneuerbare umverteilt werden. Arbeitgeber sollten Möglichkeiten und Wege schaffen, dass ihre Belegschaft klimaneutral zur Arbeit anreisen kann. Eine Idee, die in manchen Staaten bereits umgesetzt wurde, soll rasch europaweit ausgebaut werden: das Plastikflaschenpfand.

Mehr Europa, mehr Rechte

Wer solche tief einschneidenden Änderungen möchte, braucht natürlich auch ein Europa, das die Kompetenzen besitzt, solch umwälzenden Entscheidungen zu treffen. Auch deshalb kreisen einige Forderungen um eine tiefere Integration der EU. In einem föderalen Europa soll kein einzelner Staat von breiten Mehrheiten getragene Entscheidungen blockieren können. Das würde auch die gemeinsame Außenpolitik stärken, die international noch immer marginalisiert ist. Um die Demokratie zu stärken, müsse auch das Spitzenkandidatensystem bei der Parlamentswahl ernst genommen und respektiert werden, so die Jungen. Überhaupt sollten EU-Bürgerinnen immer dort auf allen Ebenen politisch mitbestimmen dürfen, wo sie gerade ihren Lebensmittelpunkt haben. Um den Europäerinnen und Europäern ihre gemeinsame europäische Identität noch näherzubringen, sollte es europäische Pässe und Personalausweise geben – ein symbolischer Schritt, aber mit Wirkung, ist man überzeugt.

Das Umziehen von einem Staat in den anderen, sei es für Studium, Beruf oder andere Gründe, soll auch noch weiter vereinfacht werden – Sprachreisen abseits der "Großen", Englisch, Französisch und Deutsch, ebenso. Eine gemeinsame Sprache zu sprechen habe Menschen einander schließlich immer noch nähergebracht.

Abseits von Klima-, Außen- und Unionspolitik drehen sich viele Sorgen junger Menschen freilich auch um die Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung. Sein oder ihr Potenzial ausleben kann aber nur, wer die entsprechenden finanziellen Mittel dazu hat. Unbezahlte Praktika müssen deshalb aufhören, fordern die Jungen. Wer arbeitet, soll dafür auch entlohnt werden. Des Weiteren sollen Anreize geschaffen werden, dass Unternehmen mehr Entry-Level-Jobs ausschreiben.

Für die Schulen fordern sie vor allem praktischere und informelle Bildung mit deutlich mehr Realitätsbezug. Deshalb sollten Curricula etwa um Freiwilligenarbeit, Austausch- und Sportprogramme ergänzt werden. Abgängerinnen und Abgänger sollten in einer Art Mentorinnenprojekt über ihre weiteren Bildungsmöglichkeiten informiert werden.

Die junge Welt ist eine, die sich vor allem auch virtuell abspielt. Um die Spielregeln kennenzulernen und den Umgang mit sozialen Medien zu erlernen, brauche es verpflichtenden Unterricht in digitaler Kompetenz – auf freiwilliger Basis auch für ältere Generationen.

In einer zusehends digitalisierten Welt brauche es aber auch neue Regeln für Cybersicherheit und Maßnahmen gegen Cyberkriminalität. Bei der Genese dieser Regeln gelte es, Abgeordnete vor ausufernder Lobbyarbeit großer Konzerne zu schützen und die Transparenz zu wahren.

Die Jungen wünschen sich außerdem viel mehr Aufmerksamkeit für das Thema mentale Gesundheit. In der Schule müsse das Thema proaktiver angesprochen werden und Safe Spaces in Städten geschaffen werden, falls jemanden eine Panikattacke heimsucht. Auch die Rechte von LGBTIQ-Communitys und Geflüchteten müssen vehement gestärkt und Menschen über eben jene Rechte informiert werden.

Weil all diese Vorhaben aber natürlich sehr viel Geld kosten, soll unter anderem durch ein gemeinsames Steuersystem in der EU Geld gespart werden. Das soll nicht nur Bürokratie vermindern, sondern auch ein Startschuss für einheitliche Mindestlöhne und ein einheitliches Pensionsantrittsalter sein. (Fabian Sommavilla aus Straßburg, 29.1.2022)