ORF-Journalist Christian Schüller geht in Pension.

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Wien – Wird man von Andreas Khol als "Missionar des Totalitarismus" bezeichnet, hat man im Laufe seiner Karriere wahrscheinlich einiges richtig gemacht. Wie Christian Schüller. Der ORF-Journalist berichtete Anfang der 1980er-Jahre in der Zeit des Bürgerkriegs aus El Salvador, wo das Militärregime gegen eine Guerilla-Allianz aus Kommunisten, Christen und Gewerkschaftern kämpfte. Das Wie schmeckte ÖVP-Politiker Andreas Khol nicht. Er identifizierte sich mit der US-Regierung unter Ronald Reagan, die auf der Seite der Militärdiktatur stand.

"Das war in einer Zeit, als ich in einem Land war, wo Leute jeden Tag für solche Zuordnungen umgebracht wurden", sagt Schüller heute über den Khol-Sager von damals. Viele Jahre später habe er Khol darauf angesprochen und als Antwort bekommen, dass es nicht persönlich gemeint war. Er, Khol, wollte nur den ORF ärgern – und hat sich dafür Schüller ausgesucht. Khol ärgerte sich privat wohl noch öfter über die "roten Gfrieser" im ORF, die er nicht mehr sehen wolle, als er öffentlich von ihnen sprach.

Mehr schwarz als rot

Der sogenannte "Rotfunk", ein Lieblingsthema Khols, ist für Schüller aber nicht mehr als ein "Märchen". In seinen Jahren beim ORF habe es mehr Phasen bürgerlicher ORF-Führungen gegeben als Generaldirektoren, die von der SPÖ installiert wurden. "Nicht nur bei den Generaldirektoren, sondern speziell auch bei den Infodirektoren und Chefredakteuren."

Für Leute wie Christian Schüller hat man das Wort Urgestein erfunden. Aus drei Monaten Praktikum in der ORF-Außenpolitik im Jahr 1977 wurden 45 Jahre Beschäftigung in verschiedenen Ländern und Positionen. Damit ist jetzt Schluss. Mit Schüller geht am 1. Februar 2022 einer der renommiertesten ORF-Journalisten in Pension. Der 64-Jährige war für den ORF in Lateinamerika, berichtete aus den USA, war in Moskau beim Zusammenbruch der Sowjetunion dabei, arbeitete als erster ORF-Korrespondent in der Türkei und im Iran und war Mitgründer und langjähriger Leiter der ORF-Reportagereihe "Am Schauplatz". Allein dafür hätte er sich schon ein Denkmal verdient.

Christian Schüller berichtete sechs Jahre aus Moskau.
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Haudegen in der Männerdomäne

An seine Emotionen könne er sich noch gut erinnern, als er zum ersten Mal das ORF-Zentrum am Küniglberg betrat, erzählt er im Gespräch mit dem STANDARD: "Ich habe geglaubt, ich bin in einem Raumschiff, das in die Zukunft fährt." Was in Österreich Relevanz hatte, wurde im ORF diskutiert. "Ich als Landkind wäre schon zufrieden gewesen, für die ORF-Stars Kaffee zu holen." Seine Anfangsjahre waren sehr stark von "journalistischen Haudegen" geprägt. Journalismus war eine Männerdomäne und ein Lebenskonzept, das wenig Platz für Privates ließ. "Wichtig war, bei den Chefs unangenehm zu sein. Das Ideal war, dass der Journalist aufmüpfig sein muss", so Schüller: "Bunte Hunde sind zugelassen worden." Auch und gerade unter dem konservativen ORF-Chef Gerd Bacher, der zwischen 1967 und 1994 insgesamt 20 Jahre lang die Geschicke des ORF leitete.

Mit Gerd Bacher verbindet Christian Schüller eine besondere Geschichte. "Als 22-Jähriger hat mich gestört, dass es unter den ORF-Redakteurssprechern nur eine Einheitsliste gegeben hat", sagt Schüller. "Ich habe gesagt: Machen wir doch eine Gegenliste. Die wurde verunglimpft als Rebellen, Kommunisten oder Jungtürken." Und dennoch, oder gerade deswegen gewann sie die Wahl. "Gerd Bacher war das lästig, und er hat mich versetzt. Ich bin jetzt noch dankbar, dass er gesagt hat: Wir schicken Sie nach Amerika, vielleicht werden Sie dort gescheiter." Gesagt, getan. Schüller ging als Co-Korrespondent von Klaus Emmerich in die USA, verbrachte aber die meiste Zeit in Lateinamerika. Das war Emmerich, dem Platzhirschen, nicht unrecht.

Kriege und Gewalt

Vom Abenteueraspekt her war das die aufregendste Zeit, rekapituliert Schüller, der etwa aus El Salvador, Nicaragua, Argentinien, Chile oder Mexiko berichtete. Alles passierte im Schatten des Kalten Krieges, der die Welt lähmte und alles in Schwarz und Weiß einteilte: "Ich habe offene Gewalt gesehen und Dinge erlebt, die ich mir nicht vorstellen konnte." Rückblickend sagt er: "Ich war ein eher ängstliches Kind und habe solche gefährlichen Situationen gesucht, um das zu überwinden." Und die Geschichte als Österreicher schwingt mit. "Es ging mir auch darum, zu verstehen, woher die Leute den Mut nehmen, Widerstand zu leisten."

Angst vor dem KGB

Mut ist überhaupt ein Thema, mit dem Auslandskorrespondenten häufig konfrontiert sind. Die sechs Jahre rund um den Zusammenbruch der Sowjetunion seien menschlich am aufregendsten gewesen: "Dort habe ich beeindruckende Menschen erlebt, die so viele moralische Entscheidungen treffen mussten, die wir uns gar nicht vorstellen können." Regimetreue oder Dissidenz? Der Wunsch nach Freiheit endete oft auf wenigen Quadratmetern. Im Gefängnis. Als westlicher Korrespondent Informanten zu treffen sei ein Spießrutenlauf gewesen. Die Angst vor den Fängen des Geheimdienstes KGB war groß. "Man hat sich im Park getroffen, nicht aber auf eine Bank gesetzt. Wegen der Befürchtung, abgehört zu werden."

Teddy Podgorski, von 1986 bis 1990 ORF-Generalintendant, besuchte Schüller 1990 in Moskau.
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In der Sowjetunion mussten Korrespondenten ihre Route anmelden, um von außerhalb Moskaus berichten zu können. Die Entscheidung traf der KGB. "Bei einem Ja gab es entlang der Route alle paar Kilometer einen Polizeiposten, der informiert war, dass der Korrespondent vorbeikommen muss." Dieses Kontrollsystem wurde erst 1991 abgeschafft, "dann konnte man sich ins Auto setzen und herumfahren".

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 war die Euphorie groß: "Wir waren sehr willkommen, sind eingeladen worden und haben nächtelang über die Welt geredet." Nachdem aber manche Freiräume nur aufgingen, damit sich ein paar Oligarchen die Ressourcen des Landes unter den Nagel reißen können, sei die Ernüchterung rasch gekommen.

Christian Schüller interviewt Boris Jelzin im Juni 1991, wenige Tage bevor Jelzin zum russischen Präsidenten gewählt wurde.
Foto: ORF

In verschiedene Lebensrealitäten eintauchen

Herumgekommen ist Schüller auch für die ORF-Reportagereihe "Am Schauplatz" viel, die er 1995 gemeinsam mit Peter Resetarits gegründet hatte und deren Leiter er bis 2011 war. Diese 16 Jahre mit zahlreichen Sozialreportagen bezeichnet er als seine "lehrreichste Zeit". Und als Kontrast zum Korrespondentenleben: "Nicht erst in Amerika oder in der Türkei beginnt eine fremde Welt, sondern gleich an der nächsten Türe." Welche Universen gibt es in der Gesellschaft? "Wir wollten sie verstehen und beschreiben, aber nicht von oben herab." Verschiedene Lebensrealitäten zeigen, ohne Menschen vorzuführen: Das zeichnet "Am Schauplatz" seit der Gründung aus.

"Warum hat Schüller nicht geholfen?"

Was Schüller heute noch im Magen liegt, ist eine Reportage über Delogierungen. Weil es so schwierig war, einen Fall zu finden, hatte er sich an die Fersen eines Möbelwagens geheftet und ist in der Großfeldsiedlung gelandet. Nachdem er eruieren konnte, wer betroffen ist, habe er bei dem Mann angeklopft und gefragt, ob dieser ihm seine Geschichte schildern wolle. "Er hat uns erzählt, wie ihm das Leben über den Kopf gewachsen ist. Während wir filmen, sind die Möbelpacker und der Gerichtsvollzieher in seine Wohnung gekommen und haben sie ausgeräumt." Am Ende ist er mit einem Plastiksackerl rausmarschiert und ins Männerheim gegangen. Nach der Ausstrahlung habe die "Kronen Zeitung" eine Geschichte daraus gestrickt und gefragt: "Warum hat Schüller nicht geholfen?"

Das habe ihn sehr beschäftigt – und der Trost ist erst ein paar Monate später gekommen. Der Bericht hat dazu beigetragen, dass das System der Delogierungsprävention verbessert wurde. "Trotzdem war ich derjenige, der mit dem Leben des Mannes eine Supergeschichte machen konnte. Auch wenn der Inhalt hauptsächlich war, ihn zu verstehen und Leute darauf aufmerksam zu machen, wie schnell man auf der Straße landen kann." Journalisten stießen an persönliche Grenzen, wenn sie nahe an Menschen dran seien, so Schüller. Auf der Strecke bleibe oft die Zeit für Reflexion und Fragen wie: "Was macht das mit mir?" Liefert man eine Geschichte ab, wartet bereits die Nächste. Dass Atempausen fehlen, liege an den personell ausgedünnten Redaktionen.

Verdrängte Geschichte

Was Schüller sehr gerne gemacht hat, sind Dorfgeschichten. Etwa jene über Rohrbrunn, das burgenländische Heimatdorf des NS-Verbrechers Alois Brunner, der rechten Hand Adolf Eichmanns. "Ein Außenstehender wollte in dem Dorf einen Film über Brunner zeigen und darüber diskutieren." Zum Missfallen des Bürgermeisters und der Dorfgemeinschaft, die das verhindern wollten. "Wir haben davon erfahren und sind im Laufe eines Jahres immer wieder hingefahren, um zu schauen, was da los ist." Beim Maibaumaufstellen sei die Lage fast eskaliert: "Einer aus dem Dorf kommt auf mich zu und sagt vor laufender Kamera: Das Einzige, was ich ihm vorwerfe ist, dass er nicht noch mehr Juden umgebracht hat." Die Szene blieb zwar Thema, wurde aber nicht gesendet.

Bei der Filmvorführung selbst war die Stimmung gegen den ORF sehr aggressiv. "Uns wurde vorgeworfen, dass wir das Dorf schlechtmachen wollen. Ich habe geglaubt, ich kriege dort meine Tetschn." Das waren Abwehrmechanismen, die man aus der Waldheim-Zeit kennt. Die "Am Schauplatz"-Reportage selbst wurde dann als ausgewogen empfunden. "Die Leute hatten Angst, stigmatisiert zu werden. Wir haben ihren Lernprozess gezeigt." Diese Grautöne seien es, die das Leben spannend machen. "Zweifel, Widersprüche, Zwischenpositionen: Das soll Platz haben."

Christian Schüller.
Foto: STANDARD/Regine Hendrich

Klagen von Novomatic

Mit Interventionen hatte es Schüller in seiner Zeit als Auslandskorrespondent selten zu tun, bei "Am Schauplatz" war das anders. "Es gab immer wieder Drohungen und Versuche, Geschichten abzudrehen. Ich habe viel, viel Zeit vor Gericht verbracht", sagt Schüller und erwähnt dabei Kläger wie Novomatic. "Sechs oder sieben Jahre haben die Prozesse gegen uns geführt", weil es in den Reportagen auch um Spielsucht ging, und da kommen Glücksspielkonzerne ins Spiel. Einschüchtern habe man sich nie lassen. Auch nicht von der FPÖ.

Der wohl längste Prozess dauerte von 2010 bis 2017 infolge der Reportage "Am rechten Rand" von Ed Moschitz. Bei einer FPÖ-Veranstaltung sollen Neonazis "Heil Hitler" oder "Sieg Heil" gerufen haben, nachdem sie vom Moschitz dazu aufgefordert worden seien, behauptete der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache – zu Unrecht. "Die FPÖ hatte bereits ein Szenario parat, wie sie agieren, wenn ein Neonazi kommt", so Schüller. Die Partei wollte den Vorfall instrumentalisieren, um gegen den ORF zu schießen. "Und die ÖVP hat sich sofort auf die Seite der FPÖ geschlagen, um ganz andere Sachen im ORF zu erreichen und Druck auszuüben."

Fesseln und Befreiungsschlag unter Schwarz-Blau

Der ORF sei immer großkoalitionär gewesen, sagt Schüller: "Einerseits war der Proporz problematisch, weil er bei der Besetzung von Führungsjobs eine Rolle gespielt hat, andererseits hat er einen gewissen Freiraum für die Redaktionen ermöglicht, weil mehrere Stakeholder im Spiel waren." Ausnahme war nur die Zeit von 2000 bis 2006, als Schwarz-Blau mit Wolfgang Schüssel an der Spitze regierte und ORF-Chefin Monika Lindner und Chefredakteur Werner Mück den Redaktionen diktieren wollten, wie und was sie zu berichten haben. "Das war die unangenehmste Phase", erinnert sich Schüller. Sie mündete in der Initiative "SOS ORF" und dem Aufstand der Redakteure.

Ein Unternehmen wie den ORF gleichzuschalten sei nicht möglich, sagt Schüller. "Das Schlimmste ist aber nicht die direkte inhaltliche Intervention, sondern das Aushungern des ORF mit Sparpaketen." Das gehe schon seit vielen Jahren so. Darunter leiden Hintergrundrecherche und investigatives Arbeiten. Erst kürzlich hat der neue ORF-Chef Roland Weißmann angekündigt, in den nächsten fünf Jahren 200 Millionen Euro einsparen zu wollen.

"Jugendtrauma" aufgearbeitet

In seiner ORF-Pension will sich Schüller noch mehr mit Reflexion beschäftigen. Er hat eine Ausbildung in Teamentwicklung gemacht, die er nicht nur bei Medien, sondern vor allem im Sozialbereich und Gesundheitswesen anwenden will. Ein "Jugendtrauma" habe er dank seiner Arbeit ohnehin bereits aufgearbeitet, sagt er und lacht: "Wenn der Hugo Portisch geredet hat, habe ich vor dem Fernseher ruhig sein müssen." Später sei er selbst in diese Situationen gekommen, wo man reden darf: "Und die Eltern haben vor dem Fernseher zugehört." (Oliver Mark, 29.1.2022)