Auf den ersten Blick mag Karl Tubutsch, der der Erzählung den Namen gibt, eine Figur wie Oblomow sein, die ohne Orientierung in den Tag hineinlebt, glücklos, aber auch nicht unglücklich. Doch Ehrensteins Protagonisten, der sich innerlich leer fühlt, plagen vor allem materielle Sorgen, und das hebt die schmale Erzählung doch deutlich über die Dimension des Fin de Siècle hinaus.

Albert Ehrenstein, "Tubutsch". Mit 10 Zeichnungen von Oskar Kokoschka. 20,60 Euro / 88 Seiten. Wallstein, 2021
Cover: Wallstein

Hier geht es nicht bloß um ein melancholisches Selbstbildnis, hier geht es um soziale Randerfahrung und existenzielle Bedrohung. Da sei "so viel Lärm" in diesem Text, schrieb Kafka, und sein Autor "ein ins Leere verlorenes, schreiendes Kind" ...

Armenhospital in NY

Ehrenstein war eine der wichtigsten Stimmen des Expressionismus, und sein Werk ist geradezu von moderner Eleganz. 1886 in Ottakring geborenen, in den 1930er-Jahren ins Exil gezwungenen, starb er 1950 in einem Armenhospital in New York. Von da an war der Lyriker und Erzähler nur noch ein Fall für die Literaturgeschichte und für Spezialisten.

Karl-Markus Gauß hat Ehrenstein schon in einem seiner frühen Bücher einen beeindruckenden Essay gewidmet und Tubutsch als "ein gänzlich unvergleichbares Meisterwerk der österreichischen Literatur" bezeichnet. Im Wallstein-Verlag hat er für eine Wiederveröffentlichung der erstmals 1911 erschienenen Erzählung gesorgt. Und die ist es wert gelesen zu werden.

Randsituationen

Allein schon, weil die Randsituation ein wenig die des Autors selbst spiegelt, mit dem es die Verhältnisse nicht gut gemeint haben. Schon früh erlebte er in Wien antisemitische Angriffe und soziale Ausgrenzung, die später sein Leben bedrohte: In Deutschland wurden seine Bücher verbrannt, in der Schweiz, wo er zuletzt mittellos lebte, drohte ihm die Ausweisung.

1941 flüchtete er in die USA, ohne auch dort reüssieren zu können. Er blieb auf die Unterstützung von Freunden und Kollegen wie Thomas Mann oder George Grosz angewiesen.

Zum anderen weist Ehrensteins Erzählung über den Kontext ihrer Entstehung hinaus ins Existenzialistische des 20. Jahrhunderts. In Tubutsch beschreibt ein Ich scheinbar ungerührt seine Isolation, notiert, was ihm auf seinen Spaziergängen durch Wien begegnet, und sei es nur ein abgerissenes Schuhband. Wie ein

Unsichtbarer wandelt Tubutsch durch Raum und Zeit, bestrebt, das Gewöhnliche mit Absonderlichem zu verbinden. Solcherart heischt er nach Aufmerksamkeit, etwa indem er sich Glacéhandschuhe überstreift, wenn er eine Wurst isst. Wen soll das interessieren? Genauso wenig, wenn er mit seinem Stiefelknecht spricht, zwei Fliegen, die er Pollak nennt, beim Sterben beobachtet oder sich an vergangene sexuelle Abenteuer erinnert.

Der Text ist zwar handlungsarm, weil dem Alltäglichen wenig äußere Spannung innewohnt, wirkt aber umso vertiefender.

Wo Ehrenstein den seelischen Zerfall seines reflektierenden Ichs in eine kleine, überaus moderne Erzählung gebannt hat, hat Genazino daraus einen ganzen Romankanon generiert. Man sieht, wie zeitlos dieses kleine Stück Literatur ist. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 29.1.2022)