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Beim Umgang mit einem Raubtier, das weiß jeder Tierpfleger, ist Stärke genauso wichtig wie Vernunft.

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Otto Habsburg, verstorbener Kaisersohn und CSU-Europaabgeordneter, zog schon vor 20 Jahren Parallelen zwischen Wladimir Putin und Adolf Hitler. Wolfgang Schäuble, Hillary Clinton und andere taten es erst nach der russischen Annexion der Halbinsel Krim 2014. Keiner von ihnen wollte dem russischen Präsidenten rassistisch motivierten Völkermord unterstellen, sondern auf ein Problem hinweisen, dass die Politik seit mehr als einem Jahrhundert plagt: Wie geht man mit autoritären Herrschern um, die aus ideologischem Antrieb oder Machthunger den Frieden und die Nachbarn bedrohen?

Mit dem Namen "Hitler" ist dabei stets das Scheitern der britischen und französischen Beschwichtigungspolitik (Appeasement) gegenüber NS-Deutschland in den 1930er-Jahren verbunden, die den Weg für Hitlers Angriffskriege ebnete, vor allem das Münchner Abkommen von September 1938.

Diesen Fehler nicht zu wiederholen ist vor allem in den USA, aber auch unter europäischen Konservativen, nach dem Zweiten Weltkrieg zum außenpolitischen Mantra geworden und hat den Kalten Krieg mit der Sowjetunion mitbefeuert. Auch heute, angesichts des russischen Truppenaufmarsches an den Grenzen der Ukraine, ringen die Nato und ihre Mitgliedsstaaten mit der Frage, wie sie einen potenziellen Aggressor abschrecken können, dass er auf einen Angriff verzichtet.

Marsch in den Ersten Weltkrieg

Die Schwierigkeit dabei ist die Gefahr, dass ein allzu forsches Vorgehen erst den Konflikt provozieren kann, den man eigentlich vermeiden will. Appeasement ist nicht in einem Vakuum entstanden, sondern war eine Reaktion auf die katastrophale Dynamik, die im Sommer 1914‚ Europa in den Ersten Weltkrieg führte.

Und auch in der jüngeren Geschichte gab es Situationen, in denen Politiker aus Überzeugung, einen neuen Hitler vor sich zu haben, unnötige Kriege anzettelten – vor allem den Angriff auf Saddam Husseins Irak 2003, in dem sich der britische Premier Tony Blair explizit in der Rolle Winston Churchills sah, der einst als einsamer Rufer vor Hitler warnte.

Auch bei Putin ist die richtige Antwort auf diese Frage nicht so klar. Einerseits hat er bereits offen erklärt, dass er die Unabhängigkeit der Ukraine nicht akzeptiert und nach einem großrussischen Reich strebt, zu dem auch Belarus gehören würde. Das ist eine Aggression, die westliche Demokratien im 21. Jahrhundert einfach nicht akzeptieren dürfen. Beim Umgang mit einem Raubtier, das weiß jeder Tierpfleger, ist Stärke genauso wichtig wie Vernunft.

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Ist Wladimir Putin der Jäger oder der Gejagte?
Foto: AP / Alexei Druzhinin

Aber Putins konkrete Forderungen – eine Garantie gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine, ein Verzicht auf eine Erweiterung des Bündnisses und der Abzug ausländischer Truppen aus Osteuropa – sind wohl mehr von Ängsten als von Expansionsgelüsten motiviert.

Russland hat nach zahlreichen Invasionen in seiner Geschichte ein massives Sicherheitsbedürfnis, und Russen fühlen sich tatsächlich von der Nato vor ihrer Haustür bedroht, auch wenn dies objektiv unberechtigt ist. Die wachsende Westorientierung der Ukraine verstärkt diese Befürchtungen.

Teufelskreis der Ängste

Aber auch die Nato hat sich aus defensiven und nicht aus offensiven Gründen in den 1990er-Jahren in den Osten ausgedehnt. Vor allem Polen und die baltischen Staaten fürchten sich vor Russland – und, wie man jetzt sieht, mit gutem Grund. Auch die Ukraine strebt nur deshalb in die Nato, weil sie darin den besten Schutz vor russischen Aggressionen sieht. Und Putins derzeitige Politik verstärkt diesen Wunsch in Kiew noch mehr.

Dieser Teufelskreis der Ängste – in der Politikwissenschaft Sicherheitsdilemma genannt – ist typisch für internationale Konflikte und kann in Kriege münden, die eigentlich niemand will. Eine Abschreckungspolitik, die gegen echte Aggressoren gerichtet ist, kann in solchen Fällen den Krieg erst auslösen, den man eigentlich verhindern will. Deshalb ist Appeasement nicht immer falsch. Um beim Tierbeispiel zu bleiben: Ein Raubtier darf nicht unnötig gereizt werden.

China als Aggressor

Ein Beispiel für erfolgreiche Beschwichtigung ist die Bereitschaft des Westens, Chinas Anspruch auf eine ungeteilte Nation nicht durch die Anerkennung der Unabhängigkeit Taiwans zu konterkarieren. Seit 50 Jahren sind alle Seiten damit gut gefahren, auch wenn Taiwan in der Realität ein souveräner Staat ist.

Doch in letzter Zeit mehren sich die Anzeichen, dass sich die Führung in Peking nicht mehr damit zufriedengeben will und Taiwan doch militärisch bedroht – oder gegen Abweichungen von dieser Ein-China-Politik mit einer Härte vorgeht, die alle internationalen Normen bricht. Litauen ist das aktuelle Opfer, das China als Aggressor erscheinen lässt.

Zwei Risiken

Appeasement ist mit zwei Risiken behaftet. Das eine ist, wenn Zugeständnisse den Gegner real stärken. Der Hauptfehler des Münchner Abkommens von 1938 war, dass die Tschechoslowakei durch den erzwungenen Verzicht auf das gebirgige Sudetenland auch seine Verteidigungseinrichtigen verlor – und damit wehrlos gegenüber dem NS-Regime wurde.

DER STANDARD

Im Falle der Ukraine und Taiwans wäre es daher falsch, wenn diesen Staaten keine Waffen mehr geliefert werden, um den großen Nachbarn nicht zu reizen. Deutschland betreibt eine solche problematische Beschwichtigung, die USA und andere Verbündete zum Glück nicht.

Das zweite Risiko ist psychologisch: Die Bereitschaft zu Zugeständnissen kann, selbst wenn diese vernünftig ist, vom Gegner als Zeichen der Schwäche gewertet werden. Das war Barack Obamas Fehler, als er 2015 auf einen Militärschlag gegen das Assad-Regime in Syrien verzichtete, obwohl dieses mit dem Chemiewaffeneinsatz die "rote Linie" des US-Präsidenten überschritten hatte, und stattdessen auf eine praktische Lösung mit Russland setzte.

Für Putin und Assad war dies ein Zeichen, dass sie die USA trotz deren militärischer Überlegenheit nicht fürchten müssen. Wahrscheinlich hat auch der US-Abzug aus Afghanistan Putin ermutigt, der Ukraine das Messer anzusetzen. Der Westen, so sein Kalkül, werde auch für dieses Land nichts riskieren.

Abschreckung und Eindämmung

Deshalb ist der Verzicht auf eine militärische Option zur Unterstützung der Ukraine womöglich ein taktischer Fehler, der die Nato erst recht in eine militärische Auseinandersetzung ziehen könnte. Das haben die USA 1950 schmerzhaft gelernt, als ihr Außenminister Dean Acheson in einer Rede Südkorea nicht als Teil des US-Verteidigungsringes erwähnte – und so den Angriff Nordkoreas provozierte.

Vier Jahre blutiger Krieg waren die Folge. Aber genauso könnte die jetzige Entschlossenheit und relative Geschlossenheit der Nato gegenüber Russland bewirken, dass Putin seine Angriffspläne wieder aufgibt.

Im Kalten Krieg galt die Eindämmung (Containment) als bester Mittelweg zwischen Beschwichtigung und Kriegstreiberei: keine unnötigen Zugeständnisse an die Sowjetunion, aber auch keine unnötigen Provokationen. So wurde ein Krieg in Europa verhindert, aber auch die sowjetische Herrschaft im Osten nicht angetastet. Das war gelebte Realpolitik.

Das politische Kalkül wird komplizierter, wenn die moralische Komponente dazukommt und westliche Demokratien sich nicht nur mit Lippenbekenntnissen, sondern ernsthaft für die Ausbreitung der Freiheit einsetzen wollen.

Das ist wohl der Kern des Ukraine-Konflikts: Putin sieht in der zunehmenden lebendigen Demokratie im Nachbarstaat eine Bedrohung seiner Herrschaft, während die EU es nicht hinnehmen will, dass ihre Werte 400 Kilometer östlich von Wien nicht mehr gelten sollen. Doch wenn es um seine innere Macht geht, wird Putin keine Zugeständnisse machen. Abschreckung allein wird zu wenig sein. (Eric Frey, 29.1.2022)