Zwölf Wochen. So lange haben Frauen in Irland Zeit, um eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Ist das Leben der Frau oder ihre Gesundheit in Gefahr, sogar länger. Was in Österreich seit Jahrzehnten im Rahmen der Fristenlösung praktiziert wird, ist für Irinnen ein absolutes Novum: Erst mit Jänner 2019 endete das rigide Abtreibungsverbot in ihrem Land. Zuvor wurden nur vereinzelt Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, jährlich reisten tausende Schwangere für den Eingriff ins Vereinigte Königreich. Der Prozess zu den gesetzlichen Lockerungen in dem konservativen Land war zäh. Ausschlaggebend für die politische Kehrtwende war schließlich ein in Irland eingerichteter Bürgerrat.

Das Gremium, das die Bevölkerung möglichst repräsentativ widerspiegeln soll, sprach sich für eine Verfassungsänderung aus – und damit für das Recht auf Abtreibung. Das Votum selbst hatte keine bindende Wirkung, brachte aber Steine ins Rollen, die schließlich zu einem Referendum führten. Bei einer Wahlbeteiligung von über 64 Prozent stimmten dann 66,4 Prozent für ein Ende des Abtreibungsverbots in Irland.

Beraten, nicht entscheiden

Irland ist nur ein Beispiel von vielen, in denen Bürgerräte Anstöße für große Entscheidungen gaben. Gerade bei politisch heiklen Themen haben solche Gremien in der Vergangenheit immer wieder dafür gesorgt, dass Regierungsverantwortlichen der Weg zu einer Entscheidungsfindung zumindest vorbereitet wurde.

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Bei Bürgerräten kommen ganz unterschiedliche Personen aus der Bevölkerung zusammen.
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Auch in Österreich gibt es seit Jänner ein solches Gremium – den Klimarat der Bürgerinnen und Bürger. Das heimische Pendant wurde durch einen Entschließungsantrag im Parlament, mit den Stimmen von ÖVP, Grünen und Neos, auf den Weg gebracht. Seitdem der Rat vor wenigen Wochen seine Arbeit aufgenommen hat, hagelt es mitunter Kritik.

Die FPÖ etwa lehnt das Gremium rundweg ab. Die beratenden Personen hätten keine demokratische Legitimation, der Klimarat sei eine Verschwendung von Steuergeld, meinen die Freiheitlichen. Auch Kurier-Chefredakteurin Martina Salomon mutmaßte in einem Kommentar, dass "durch nichts qualifizierte Bürgerräte" die repräsentative Demokratie aushebeln könnten.

Doch wie viel Einfluss haben Bürgerräte wirklich auf politische Entscheidungen?

Mit Sicherheit könne natürlich niemand sagen, ob Abtreibung in Irland ohne den Bürgerrat verboten geblieben wäre, sagt David Farrell im Gespräch mit dem STANDARD. Er ist jedoch überzeugt, dass es ohne Bürgerrat nie so weit gekommen wäre. Der Politikwissenschafter des University College in Dublin ist einer der Architekten des irischen Gremiums – und klarer Befürworter der Idee. "Bürgerversammlungen haben in den vergangenen Jahren eine maßgebliche Rolle dabei gespielt, wichtige Reformprozesse in Irland voranzubringen", sagt der Experte. Als Beispiele nennt er das Ende des Verbots für gleichgeschlechtliche Eheschließungen sowie die Streichung der Blasphemie aus der irischen Verfassung.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei der Eröffnung des Klimarats im Jänner.
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Bürgerräte können aus Sicht von Farrell politische Institutionen erweitern – ihre Aufgabe sei aber nicht, sie zu ersetzen: "Bürgerräte sind da, um zu ergänzen, um zu helfen", sagt der Politikwissenschafter. "Sie halten Politiker an der Hand, machen ihnen Mut und geben ihnen nützliche Hinweise zu den Ansichten informierter Bürger." Auch in Irland gab es Kritik an dem Prozess, sagt der Uni-Professor. "Ich denke, der entscheidende Punkt ist jedoch, daran zu erinnern, dass Bürgerräte nur beraten können. Ihre Entscheidungen sind nicht bindend." Es sei die Aufgabe der bestehenden politischen und verfassungsrechtlichen Einrichtungen, zu bestimmen, was mit den Ergebnissen aus solchen Prozessen geschehe. Auf jeden Fall werde die Stimme der breiteren Bevölkerung durch den Prozess nicht länger an den Rand gedrängt.

Doch ist die zufällig zusammengewürfelte Truppe wirklich demokratisch legitimiert? Die Politikwissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle merkt an, dass es mehrere Formen der Demokratie gebe. Da wäre einerseits die repräsentative, also im Wesentlichen Nationalrat, Landtage und Gemeinderäte, die Gesetze beschließen. Die direkte Demokratie wiederum kennen wir in Österreich hauptsächlich in Form von Volksabstimmungen und -begehren. Dazu gesellt sich mit Bürgerräten eben noch die konsultative Demokratie – also Gremien, die keine Entscheidungen treffen, sondern nur Empfehlungen abgeben. "Diese drei Formen sind im Mix gut", sagt Stainer-Hämmerle.

Österreich im Kleinen

Statt als Konkurrenz zum Parlament müsse man die Ergebnisse von Bürgerräten wie Gutachten oder wissenschaftliche Studien betrachten, welche die Politik ja auch regelmäßig in Auftrag gibt, um informiertere Entscheidungen treffen zu können. Den Input von "normalen Menschen" brauche die Politik jedenfalls heute mehr denn je.

Im politischen Diskurs, in Leserbriefen und am Stammtisch, sprechen oft die immer gleichen Leute. In die per Losverfahren besetzten Bürgerräte hineinzukommen, da habe hingegen jeder und jede die gleiche Chance. Damit erreicht man auch politikferne Menschen. Schon die gemeinsame Diskussion könne viel in Menschen auslösen. Corona-Maßnahmengegnern etwa könnten in so einem Umfeld wieder in den politischen Dialog eintreten, sagt Stainer-Hämmerle.

Ein Österreich im Kleinen, in dem möglichst viele Meinungen vertreten sind – das wollen Bürgerräte in der Theorie. In der Praxis ist das aber oft gar nicht einfach. Als der von Vereinen organisierte Zukunftsrat Demokratie vergangenes Jahr über 100 zufällig ausgewählte Menschen einlud, war die Rücklaufquote überschaubar. Oft fehlt es an Zeit, Kinderbetreuung – oder einfach am Interesse, mit Fremden zu diskutieren.

Am ersten Wochenende des Klimarats wurde in Wien diskutiert.
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Und beim eben gestarteten Klimarat? Bei diesem wurde darauf geachtet, dass jene strukturellen Hürden möglichst beseitigt werden, heißt es vonseiten der Organisatoren. Für den Prozess wurden rund 2000 zufällig aus dem Melderegister ausgewählte Bürgerinnen und Bürger kontaktiert und gefragt, ob sie bei dem Klimarat mitmachen würden. Aus den Interessenten wurden die 100 Teilnehmer repräsentativ ausgewählt. Ihr Interesse am Klimaschutz wurde neben sozioökonomischen Aspekten in einem Fragebogen erhoben, damit die Auswahl möglichst einem "Mini-Österreich" entspricht. Die Ausgewählten kamen dann auch zum ersten Termin und wollen auch künftig dabei sein. Entscheidungen trifft die Gruppe über sogenanntes "systemisches Konsensieren". Einwände gegen Vorschläge müssen begründet und gemeinsam bearbeitet werden. Jene Empfehlungen mit den geringsten Widerständen werden in das Ergebnispapier aufgenommen.

Bisher sind Bürgerräte auf das Wohlwollen von Politikern angewiesen, die sie einsetzen. Denn gesetzlich verankert sind sie bisher nur in Vorarlberg, wo 1000 Unterschriften reichen, um einen Bürgerrat einzuberufen. Viele Verfechter des Konzepts hätten es auch auf Bundesebene gerne festgeschrieben. Der Demokratie würde das eher zuträglich sein als ihr schaden, sagt Verfassungsrechtler Heinz Mayer zum STANDARD.

Bedenklich würde es erst, wenn gewählte Volksvertreter ausgehebelt werden. 2020 hob der Verfassungsgerichtshof (VfGH) etwa eine Regelung in Vorarlberg auf, mit der eine Volksabstimmung gegen den Willen von Gemeinderäten durchgesetzt werden konnte. Österreich sei vor allem eine repräsentative Demokratie, hielt der VfGH damals fest. Das muss nicht für immer so bleiben – eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat könnte Gremien wie dem Bürgerrat auch über reine Empfehlungen hinausgehende Rechte einräumen, sagt Mayer. Dass diese zustandekommt, ist allerdings äußerst unwahrscheinlich – und auch gar nicht das Ziel der Bürgerrats-Bewegung.

Was mit den Ergebnissen des österreichischen Klimarats geschieht, ist noch offen. Die Regierung hat zugesagt, die Empfehlungen zu sichten und Rückmeldung zu diesen zu geben. Angesichts des gemächlichen Tempos in Österreichs Klimapolitik wird es bis zu bindenden Entscheidungen – so es denn überhaupt zu solchen kommt – aber wohl noch eine Weile dauern. (Nora Laufer, Philip Pramer, 30.1.2022)