Ex-Vizekanzler und Ex-ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner hat Teile eines rot-schwarzen Sideletters "geerbt", selbst mit Kanzler Christian Kern (SPÖ) aber keinen vereinbart.

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Wien – Freitagabend wurden sogenannte "Sideletter" zu den offiziellen Koalitionsverträgen bekannt, die die ÖVP 2017 mit der FPÖ, aber auch mit dem jetzigen Koalitionspartner, den Grünen, vereinbart hat. In den bisher geheimen Nebenabsprachen sind unter anderem sehr konkrete Personalentscheidungen verankert. Was hat es mit solchen Papieren auf sich? Per se anstößig oder selbstverständlicher, vielleicht sogar notwendiger Teil von Regierungshandeln mit Blick auf später anstehende Entscheidungen?

Reinhold Mitterlehner war nach Michael Spindeleggers Abgang ab September 2014 ÖVP-Chef und Vizekanzler im Kabinett Faymann II, nach dessen Rücktritt dann ab Mitte Mai 2016 in der von Kanzler Christian Kern geführten SPÖ-ÖVP-Koalition, bis er selbst ein Jahr später seinen Rückzug bekanntgab. Welche Erfahrungen hat er mit "Sidelettern", geheimen Neben- oder nicht öffentlichen Vorabsprachen zwischen Regierungsparteien gemacht?

STANDARD: Haben Sie und Christian Kern (SPÖ) auch einen "Sideletter" zu ihrer rot-schwarzen Koalition gehabt?

Mitterlehner: Nein, wir haben keinen Sideletter vereinbart, aber nicht, weil wir so großartig waren, sondern weil wir ja in einer laufenden Regierungsperiode waren und keine Regierungsverhandlungen geführt haben. Meines Erachtens sind solche Sideletter immer ein Nebenergebnis von Regierungsverhandlungen. Sie sind eine durchaus übliche Spielregel. Dort, wo die Regierung eine Personalentscheidung treffen muss, braucht man einen Modus dazu. Hat man diesen nicht, ist Streit vorprogrammiert.

STANDARD: Haben Sie dann vielleicht von Ihren Vorgängern im Amt – Werner Faymann (SPÖ) und Michael Spindelegger (ÖVP) – solche "Nebenergebnisse" geerbt?

Mitterlehner: Ja, aber nur fragmentarisch, und das hat uns gleich im Sommer 2016 bei Rechnungshof und ORF in Turbulenzen gebracht.

STANDARD: Sie sagen dennoch, Sideletter sind nicht unwichtige Nebenergebnisse von Koalitionsgesprächen. Warum?

Mitterlehner: Weil zu dem Zeitpunkt noch keinerlei Konflikte, die aus der täglichen Regierungsarbeit entstehen können, da sind. Es ist eine Vorsorge für anstehende Entscheidungen, die eine Regierung treffen muss. Wer jetzt also sagt, das hat’s immer gegeben, hat nicht unrecht. Dieses Denken ist auch ein Relikt der – mittlerweile doch überholten – Proporzkultur in Österreich, das übriggeblieben ist aus der Zeit, in der praktisch zwei Parteien das Land beherrscht haben. Das hat sich im System durchgezogen bis zum Schulwart auf der Gemeindeebene.

STANDARD: Sind Sie also der Meinung, solche Vereinbarungen im Hintergrund sind ok, ja, es ist fast selbstverständlich, dass Parteien, die miteinander regieren wollen, sich schon vorher auch Gedanken machen über mitunter brisante Personalentscheidungen?

Mitterlehner: Richtig, und zwar vor allem dort, wo die Regierung bestimmte Personalentscheidungen zu treffen hat. Wenn ich beispielsweise den Regierungsvorschlag für die Besetzung des EU-Kommissars in der laufenden Legislaturperiode machen muss, dann finde ich das durchaus richtig, dass man nicht ohne vereinbarten Modus einfach abwartet. Sonst sind Auseinandersetzungen gewissermaßen vorprogrammiert. Beim EU-Kommissar oder bei ganz großen Entscheidungen ist es auch in anderen Ländern üblich, dass sich der größere Partner in der Koalition die Nominierung vorbehält – und wenn die anderen Partner in der Regierung zustimmen müssen, gibt es halt einen Ausgleich.

STANDARD: Was ist die Hauptfunktion von solchen Sidelettern?

Mitterlehner: Klarheit und Spielregeln für anstehende Entscheidungen zu haben. Natürlich ist ein verstecktes Motiv auch der Machtfaktor. Jeder möchte im eigenen Bereich signalisieren, was man durchsetzt. Man braucht aber einander, deswegen gibt es Kompromisse. Natürlich ist es auch eine Frage der Stärke, wie die Rückkoppelung zur eigenen Partei ist. Das ist auch heute noch so. Zum Beispiel hat Ministerin Leonore Gewessler, die da meines Erachtens ja eine der Objektivsten ist, sofort im Bereich der Asfinag oder der SCHIG (Anm. Schieneninfrastruktur-Dienstleistungsgesellschaft mbH) Besetzungen gemacht, die signalisieren, das sind kompetente Leute, die aber halt dem grünen Lager nahestehen.

STANDARD: Sehen Sie einen qualitativen Unterschied zwischen dem fünfseitigen türkis-blauen Sideletter und dem türkis-grünen auf zwei Seiten?

Mitterlehner: Ich würde sagen, dass die Ausführlichkeit der Vereinbarungen zwischen ÖVP und FPÖ von 2017 schon darauf schließen lässt, dass da ein besonders ausgeprägtes Machtdenken vorhanden war – insbesondere bei den Freiheitlichen, bei denen die Versorgung mit Posten – siehe Chats mit Thomas Schmid – offensichtlich einen besonderen Stellenwert hatte. In der laufenden türkis-grünen Vereinbarung hat man zumindest erkannt, dass Kompetenz und qualitative Kriterien berücksichtigt werden müssen.

STANDARD: Ist die ÖVP-FPÖ-Vereinbarung, wonach die ÖVP den Aufsichtsrat und den Vorstand der damaligen Staatsholding Öbib, später Öbag, nominieren sollte, anders zu bewerten als die sehr detaillierten personellen Besetzungspläne etwa für den Verfassungsgerichtshof oder den österreichischen EU-Kommissar, wo die Regierung ja definierte Nominierungsrechte hat? Was ist "erlaubt" oder eine gerechtfertigte Überlegung im Vorfeld?

Mitterlehner: Das ist genau der Punkt: erlaubt oder gerechtfertigt. Ich glaube nicht, dass zum Beispiel die VfGH- oder die EU-Kommissars-Absprache gegen ein Gesetz verstößt, weil da muss es eine Entscheidung der Regierung geben und ich muss irgendeinen Entscheidungsmechanismus haben. Dass der dann nach einer Art balanciertem System, das auch ein bisschen die Stärkeverhältnisse in der Koalition widerspiegelt, stattfindet – ich kriege das und du kriegst das –, war zumindest in Österreich Usus. Da unterscheidet sich die Regierung aus ÖVP und Grünen nicht von Vorgängerregierungen. Sprich: Das ist eben auch ein Sideletter, der an sich auch nicht für die Öffentlichkeit gedacht war oder niemals gedacht ist, sondern einfach eine pragmatische Entscheidungsfindung sicherstellt.

STANDARD: Und die Öbib-Regelung? Anfang 2018 wurden Pläne bekannt, dass die Staatsholding in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden soll. Ein Jahr später, im Februar 2019, wurde der neue Öbag-Aufsichtsrat bestellt, der den später zu zweifelhafter Berühmtheit gelangten Thomas Schmid zum Alleinvorstand machte.

Mitterlehner: Der entscheidende Fehler war, dass man mit der neustrukturierten Öbag eine Aktiengesellschaft geschaffen und nicht bedacht hat, dass die Aktiengesellschaft, was den Vorstand anlangt, immer durch den Aufsichtsrat entscheiden muss. Anders als bei einer GesmbH, wo der Eigentümer Staat weisungsberechtigt war. Durch diese Passage wird natürlich das Denken, dass man sich über rechtliche Kompetenzen hinwegsetzt, entlarvt. Diese Schlampigkeit ist damals offensichtlich niemand aufgefallen und ist jetzt zumindest politisch sehr relevant.

STANDARD: Haben Sideletter auch mit dem jeweiligen Koalitionspartner und dem Vertrauen in ihn zu tun, dass man sich also mal mehr und mal weniger schriftlich absichern muss? Sind sie umso ausführlicher, je prekärer man als der stärkere Part in der Regierung das Verhältnis zum Koalitionspartner einschätzt?

Mitterlehner: Das ist ein wichtiger Aspekt: Wenn man signalisiert, der an der Macht befindliche Koalitionspartner kann auch dir einen Posten bringen, dann ist das natürlich die Karotte in der Auslage, die eine Art Loyalität und das Interesse an einer Fortsetzung der Koalition sichert. Die einzelnen Entscheidungen finden ja nicht ad hoc am Tag der Regierungsbildung statt, sondern im Laufe der Periode. Da kann die Stimmung schon anders sein. Dann gibt es auch ein Interesse, dass diese oder jene Postenbesetzung auch tatsächlich stattfindet. Von daher ist so ein Sideletter auch ein verbindender Kitt für eine Koalition.

STANDARD: Im grünen Parlamentsklub sorgte das Auftauchen des Sideletters mit der ÖVP für einiges Unbehagen. Ist es besonders verwerflich oder "böser", wenn die Grünen das auch machen, was FPÖ und ÖVP gemacht haben? Oder ist es schlicht ein pragmatischer Teil des Regierens, wenn man sich nicht unterbuttern lassen will?

Mitterlehner: Die Grünen haben vermutlich dasselbe Denkmuster: Wenn sie schon in der Regierung sind, dann soll man das im eigenen Lager auch merken, dass da mehr oder weniger grüne Inhalte durchkommen. Na ja, und wer vertritt "grüne" Inhalte. Leute, die der Partei nahe stehen oder auch Mitglied sind. Nur ist natürlich niemand daran interessiert, dass das auch transparent wird. Das ist der springende Punkt. Deswegen war man zumindest so gescheit und hat hineingeschrieben, dass alle Besetzungen "auf Basis von Kompetenz und Qualifikation" erfolgen sollen. Damit ist zumindest der Eindruck ein bisschen eingefangen, dass man offen gegen Ausschreibungsprinzipien oder die Vertragsschablonenverordnung für Managerverträge in öffentlichen Unternehmen verstößt. Im Übrigen glaube ich, dass diese Praxis in ihren praktischen Auswirkungen teilweise überschätzt wird.

STANDARD: Inwiefern?

Mitterlehner: Viele Leute haben ja dann nichts Besseres zu tun, als dass sie in dem Augenblick, wo sie nominiert sind, versuchen, ihre Neutralität oder Unabhängigkeit in der Öffentlichkeit besonders zu beweisen, damit ja nicht der Eindruck entsteht, sie wären von dieser oder jener Partei nominiert worden. Die Rückkoppelung, dass dann parteimäßige Dankbarkeit erstattet wird, ist mir noch nicht aufgefallen. Ich kann da allerdings nicht für andere Parteien sprechen. (Lisa Nimmervoll, 29.1.2022)