Wo geht es hier nach Kleinasien? Julia Kreusch mit Mikis Kastrinidis und der famosen Ziege "Peter".

Foto: Alexi Pelekanos

Es ist ein ungemein beschwerlicher Weg, den Eleftheria (Julia Kreusch) seit etwa 1923 zurückgelegt hat: vom kleinasiatischen Herkunftsland der Pontos-Griechen hinüber nach Europa. Die gewaltsame Umsiedlung hunderttausender Griechen bildet die düstere Folie von Schwarzes Meer. Der Text der in der Schweiz lebenden Schauspielerin Irina Kastrinidis entrollt in zigfachen Spiegelungen das Schicksal der damals Vertriebenen: Kleinasiatische Griechen wurden auf langen Todesmärschen durch die Wüste getrieben. Kinder wurden erschlagen, ihre Geschwister für ein Stück Brot verkauft.

Eleftheria hat Glück gehabt, indem sie die Landschaft am Bosporus mit derjenigen an der friedlich glucksenden Traisen eingetauscht hat. Vor einer dünenhohen Packpapierlandschaft (Ausstattung: Aleksandar Denić) wird im Landestheater Niederösterreich ein höchst wunderliches Kapitel Exilgeschichte aufgeschlagen.

Regie-Meister Frank Castorf, ein früherer Lebensgefährte der Autorin, gibt diesmal nicht den Stücke-Zerkleinerer, sondern die Hebamme. Er stattet Kreusch, die Kastrinidis‘ Drama wie eine Zauberin Kirke deklamiert, als rasende Inselherrin im Partykleid, mit höchst ungewöhnlichen Helfershelfern aus.

Das stille Faktotum

Da wäre "Herr Schimböck" (Sebastian Schimböck) zu nennen, das uneigennützige Faktotum als Referent, der seine Diva wahlweise mit grüner oder roter Mappe versieht. Der ihr undurchdringlich lächelnd Stichwörter zuwirft oder den dringend benötigten Rotwein vorsetzt. Der – wenn wieder einmal vom Vergehen der "Zeit" die Rede ist – aus den Seiten der gleichnamigen Hamburger Wochenzeitung ein Papierboot faltet. Und der, wie Kreusch anmerkt, Marie Rötzer als nächster Intendant des Landestheaters beerben wird. Castorf beliebt zu scherzen – immerhin hatte er als Berliner Volksbühnenchef mit René Pollesch und Co einst Persönlichkeiten gepäppelt, die ihn jetzt vergessen machen sollen.

Es gibt in St. Pölten eine lebendige, äußerst trittsichere Ziege namens "Peter". Dann wäre noch "Mikis" zu nennen, ein allerliebster Dreikäsehoch mit Schwyzer Zungenschlag. Er ist der leibhaftige gemeinsame Spross von Autorin und Regisseur. Er gibt den Puck auf Kastrinidis‘ Fantasie-Eiland.

Und was dieser Text, in Kreuschs überschnappender Manier, nicht alles in rollenden Jamben zum Besten gibt: das Heimweh der Medea. Das Leid der Entwurzelten. Die erotischen Wechselfälle Eleftherias, die als eine Art Romy Schneider der lavendelduftenden Küste mit Alain Delon poussiert ("Achilleas"). Man darf auch an Jane Birkin denken, an Serge Gainsbourgs Begattungsgesänge. Und, wie zu allem Überdruss, hält die Schauspielerin mittels altmodischem Bakelittelefon den nie abreißenden Kontakt zur Autorin.

Wasser und Sirtaki

Kreusch durchlebt während zweieinhalb göttlichen Theaterstunden diverse Häutungen. Sie tanzt Sirtaki und schluckt Unmengen Wassers aus den Castorf-Blechkübeln . Sie macht, Verse blökend, der Ziege Peter Konkurrenz. Sie setzt sich wie eine rasende Mänade gegen Castorf-Klischees zur Wehr: wenn der Packpapierberg abgetragen wird und sie den Genuss des unvermeidlichen Dosenbiers strikt von sich weist. Vor allem aber wird der vergessenen Opfer der Umsiedlungskatastrophe von 1923 würdig gedacht. Das heißt: gespickt mit Zitaten aus der historischen Fachliteratur. Versehen mit zahlreichen Anspielungen auf die reale Person Kastrinidis. An allen Ecken aber lodert ein archaisches Begeisterungsfeuer, das hellhörige Bewusstsein für die Macht des Eingedenkens. Als letztes Gegenüber hat Kreusch eine Kasperlpuppe an der Hand. Unter dem Lichtstrahl einer Glühbirne entspinnt sich ein Zwiegespräch: "Hallo, hier ist die Zukunft…"

Der frenetische Jubel galt einer ingeniösen Schauspielerin. Und Castorf? Hat nun auch die niederösterreichische Landeshauptstadt im Sturm genommen. Die allernächste Zukunft führt ihn nach Dresden, wo er Wallenstein inszeniert. Auf Bosporus und Traisen folgt die Elbe. (Ronald Pohl, 30.1.2022)