Gedränge um die Koalitionäre Julius Raab und Adolf Schärf (1955 nach den Staatsvertragsverhandlungen): Postenbesetzungen nach Parteibuch ausgeglichen.

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Wien – Als der SPÖ-Vorsitzende und spätere Bundespräsident Adolf Schärf 1955 in einem damals vielgelesenen Buch Rechenschaft über "Österreichs Erneuerung 1945 bis 1955" ablegte, hatte er keinerlei Scheu, die Absprachen über Postenbesetzungen nach der Wahl 1949 offenzulegen, ja sogar zu loben: "In einem allgemeinen Teil über die Grundsätze der Zusammenarbeit wurde ausdrücklich festgehalten, dass es sich um eine Regierung zu zweit, also unter Ausschluss dritter Parteien, handle; daß im Verhältnis zwischen beiden Parteien der bei den Wahlen vom 9. Oktober 1949 erzielte Proporz gelte, der auch bei den Vorschlägen für die Leistungsfunktionen der verstaatlichten Wirtschaft anzuwenden sei."

Proporz als Gegenentwurf zur Diktatur

Das Bekenntnis zum Proporz wurde in den ersten Jahren der Zweiten Republik durchaus als demokratischer Fortschritt gesehen: Die Monarchie war erst vor drei Jahrzehnten zu Ende gegangen (das entspricht dem Zeitabstand, mit dem wir heute auf den Fall der Berliner Mauer zurückblicken), und in der Zwischenzeit hatte es zwei Diktaturen gegeben – in all diesen Epochen hatte im Wesentlichen eine politische Kraft nicht nur Inhalte, sondern auch Personal in Politik und Verwaltung bestimmt.

In der Nachkriegszeit also waren es dann immerhin zwei Parteien, die sich nicht nur das Regierungsprogramm, sondern auch alle wichtigen Ämter untereinander ausmachen konnten – die damals 44 Prozent starke ÖVP und ihr 38,7 Prozent starker Koalitionspartner SPÖ. Das bedeutete, dass vier von fünf Wahlberechtigten durch eine der Regierungsparteien vertreten waren; und diese Vertretung schlug sich eben nicht nur in Gesetzgebung und Regierung, sondern auch in der staatlichen Verwaltung und in den damals sehr bedeutenden Betrieben der verstaatlichten Industrie nieder. Noch in den 1970er-Jahren waren ungefähr 15 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in öffentlichen Unternehmen beschäftigt – mit "Beziehungen" und dem richtigen Parteibuch konnte man dort ganz bequem unterkommen.

Lagerausgleich auch unter Kreisky

Das fand zumindest in den ersten Jahrzehnten nach 1945 breite Zustimmung – und es galt als gute Gepflogenheit, dass auch die Alleinregierungen Klaus (ÖVP, 1966–1970) und Kreisky (SPÖ, 1970–1983) ein Auge darauf hatten, dass Bewerber aus dem jeweils anderen Lager zum Zug kommen konnten. Dies nicht nur des politischen Ausgleichs wegen, sondern gelegentlich auch, um gefährliche Gegner zu neutralisieren: So hat Bruno Kreisky den erfolgreichen ÖVP-Klubobmann Stephan Koren 1978 zum Präsidenten der Nationalbank gemacht – und im Jahr darauf den größten Wahlerfolg der SPÖ erzielt.

Privilegiengegnerschaft an der Wiege der FPÖ

Keine Zustimmung zu den politischen Besetzungen gab es bei jenem Fünftel der Wählerschaft, das aufgrund der lange dominierenden schwarz-roten Mehrheit ausgeschlossen war: Kommunisten und der damals erstarkende Verband der Unabhängigen (VdU). Dieser war Vorgängerorganisation der FPÖ – und sein Gründer Herbert Kraus analysierte schon 1947 die "Mißstände in unserem Parteiwesen" mit dem Hinweis: "Der dritte Mißstand ist der Parteieneinfluss auf die Vergebung von staatlichen Stellungen. ... Er ist der eigentliche Grund für das unheimliche Anwachsen unseres Beamtenapparats. ... Zu diesen wirtschaftlichen Folgen kommt noch, dass die von den Parteien beeinflusste Postenbesetzung keineswegs den tüchtigsten oder anständigsten Mann an die staatliche Führungsstelle setzt, sondern den 'Posten'-Sucher, d.h., den eigentlichen Dilettanten."

Viele der bei den zwischen ÖVP und SPÖ ausgehandelten Postenbesetzungen leer ausgegangenen Personen fanden sich dann unter Wählern von VdU/WdU und später der FPÖ. Diese hat den bis dahin wenig und zunächst eher in der linken Publizistik genutzten Begriff "Postenschacher" über Jahrzehnte in die österreichische Alltagssprache eingeführt – wobei nicht allgemein bekannt sein dürfte, dass "Schacher" vom hebräischen "sachar" für Kleinhandel kommt und seit der frühen Neuzeit eine klar antisemitische Bedeutung hatte.

Wobei die FPÖ, wenn sie denn in die Verlegenheit gekommen ist, selbst Personen für Spitzenpositionen zu nominieren, stets zugelangt hat – was wie auch jetzt von den Grünen damit gerechtfertigt wurde, dass man ja nicht dem Koalitionspartner allen Einfluss überlassen könne.

Loyalität und politische Verantwortung

Zu dieser seit den Frühzeiten des Proporzes in den 40er-Jahren gängigen Argumentation kommen eine politische und eine rechtliche: Erstens brauchen Regierungspolitiker angesichts komplexer werdender Entscheidungsprozesse verlässliche Mitarbeiter, die man eben nur in der eigenen Parteigefolgschaft zu finden können glaubt. Dies ist auch eine Folge der sogenannten Objektivierung, mit der seit den 1980er-Jahren versucht wurde, Postenbesetzungen transparenter zu machen und dem Parteibucheinfluss zu entziehen.

Das hat im verbliebenen Bereich der staatlichen Wirtschaft kaum funktioniert und in der öffentlichen Verwaltung bewirkt, dass Spitzenfunktionen nur noch auf Zeit vergeben werden konnten. Wer sich in der Spitzenfunktion als weniger geeignet erweisen würde, sollte auch abgelöst werden können. Das hat einerseits manche Spitzenbeamte bewogen, sich im Hinblick auf ihre mögliche Wiederbestellung politisch biegsam zu zeigen – während andererseits die Minister immer größere Kabinette aufgebaut haben, weil sie ja dem vom Vorgänger eingesetzten Personal nicht trauen können.

Hier kommt ein weiterer Aspekt der politischen Postenbesetzungen zum Tragen: Eigentlich liegt die gesamte Verwaltungstätigkeit in der jeweiligen Ministerverantwortung. Daher müsste das handelnde Personal sowohl nach Fähigkeit als auch nach Loyalität ausgewählt werden (was sich möglicherweise widerspricht). Man kann ein Regierungsmitglied schwerlich dazu verpflichten, den Kopf für seine Leute hinzuhalten, wenn diese gar nicht "seine" Leute sind. Wenn aber Minister und die Parteien, die sie in die Regierung entsenden, nicht für die Personalien verantwortlich gemacht werden können, endet die politische Verantwortlichkeit völlig. (Conrad Seidl, 31.1.2022)