In seinem Gastblog beleuchtet der Historiker Mihailo St. Popović einen eher unbekannten Aspekt der österreichischen Geschichte.

"Als die Rauchschwaden des Trommelfeuers am Horizont zu sehen waren, wurde ich unruhig. Alle begannen, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken. Leute zogen durch den Ort, teils zu Fuß, teils auf Wägen, in Richtung Hauptstadt. Eilig belud ich den kleinen Wagen vor dem Haus und spannte den Ochsen vor." Solche Gedanken gehören zur traurigen Konstante aller Kriegsschauplätze des 21. Jahrhunderts und könnten einem aktuellen Geschehen entnommen sein, wäre da nicht der kleine Wagen mit dem Ochsen.

"Internally Displaced People" in der Monarchie

Im Ersten Weltkrieg kam es zu Flüchtlingsströmen von den Kriegsschauplätzen, den Grenzgebieten der Monarchie, ins Reichsinnere. Mehr als eine Million Menschen waren auf der Flucht, die heute laut UNHCR als "Internally Displaced People" (Binnenflüchtlinge) gelten würden. Bewohnerinnen und Bewohner betroffener Gebiete verließen ihre Häuser und Höfe, um sich vor den Kämpfen in Sicherheit zu bringen. Zusätzlich wurden aus strategischen Gründen zahlreiche Dörfer von der k. u. k. Armee evakuiert, um die lokalen Ressourcen selbst zu nutzen oder sie auf dem Rückzug vor dem vordringenden Feind zu zerstören.

An der Front zum Zarenreich Russland waren davon Ruthenen (die in Galizien und der Bukowina ansässigen Ukrainer), Rumänen und Juden betroffen, unter den Christen besonders die orthodoxe Bevölkerung. Die Flüchtlinge wurden registriert und nach sozialem Status, materiellem Besitz, Ethnie und Religion kategorisiert. Ziel dieser Maßnahmen war die Steuerung und Kontrolle der Flüchtlingsströme in das Innere der Monarchie.

Das Haupttor zum Flüchtlingslager Oberhollabrunn im Jahr 1916.
Foto: Gemeinfrei

Niederösterreich als Zwischen- oder Endstation

Bereits im Februar 1915 befanden sich rund eine halbe Million Kriegsflüchtlinge aus der Bukowina und Galizien in verschiedenen Teilen der Monarchie, davon rund 25.000 in Niederösterreich. Dort entstanden in der Folge mehrere Barackenstädte, die größte in Gmünd beherbergte im Laufe des Krieges bis zu 30.000 Flüchtlinge, überwiegend Ruthenen.

Oberhollabrunn (jetzt Teil der Stadt Hollabrunn) war wegen des Bedarfs an Hilfskräften in der Landwirtschaft ebenfalls zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit. Im Eiltempo wurde ein Flüchtlingslager errichtet, das für 5.000 Menschen konzipiert war und nach dem Krieg als Stadterweiterungsgebiet (heute Ortsteil "Gartenstadt") einverleibt werden sollte.

Für manche unter den Flüchtlingen war dieses Lager aber keine Zwischen-, sondern eine Endstation. 343 Totenbeschaubefunde im Archiv der Metropolis von Austria in Wien geben Auskunft über Name, Geschlecht, Alter, Geburtsort, Beruf und Todesursache eines Teils der Geflüchteten.

Begleitet und betreut wurden die Menschen im Lager von orthodoxen Priestern, die ihrerseits ebenfalls Flüchtlinge waren. Die Verstorbenen fanden ihre letzte Ruhestätte laut Archivalien auf dem Friedhof Hollabrunn. Dort hat die Zeit zwar ihre Spuren endgültig verwischt, jedoch nicht im heutigen Ortsteil "Gartenstadt". Ein Lokalaugenschein zeigt, dass zahlreiche Gebäude des Lagers erhalten geblieben sind und jetzt für private Wohnzwecke genutzt werden.

Spurensuche

Die Biografien der verstorbenen Flüchtlinge und die erhaltene historische Infrastruktur vor Ort wurden digital verarbeitet und können über ein Geoportal online abgerufen und durchsucht werden. In einer eigens entwickelten App gibt es auch einen digital unterstützten Spaziergang, der rund 50 Minuten dauert und die baulichen Überreste des ehemaligen Flüchtlingslagers mit historischen Fakten kontextualisiert.

Das eingangs erwähnte Zitat ist eine fiktionale Ich-Erzählung, die in Form einer Online-Ausstellung das Schicksal der orthodoxen Flüchtlinge aus der Bukowina im Ersten Weltkrieg darstellt. Sie trägt den Titel "Auf der Flucht in der Monarchie: Das Schicksal der orthodoxen Flüchtlinge im Lager Oberhollabrunn (1914–1918)", ist zweisprachig (Deutsch, Englisch) und basiert auf einem gleichnamigen Forschungsprojekt, das vom Zukunftsfonds der Republik Österreich finanziert wurde.

Digitales Geoportal der Geschichte der Orthodoxen in Österreich.
Screenshot: https://orthodoxes-europa.at/geoportal

Historisch betrachtet ist die Geschichte des Lagers Oberhollabrunn lediglich die berühmte "Spitze des Eisberges" in einer bewegten Geschichte zwischen den Landesteilen Bukowina und Niederösterreich in der Monarchie im Ersten Weltkrieg. (Mihailo St. Popović, 1.2.2022)