Die Liste der mutmaßlich illegalen Zusammenkünfte in Downing Street Nr. 10 ist lang geworden.

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Auch Premier Boris Johnson selbst soll an Feiern teilgenommen haben.

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Der Premierminister ist "ein Mann ohne Schamgefühl, für höchste Ämter ungeeignet" – die Veröffentlichung eines ersten Berichts über die zahlreichen Lockdown-Partys in der Downing Street hat Labour-Oppositionschef Keir Starmer zu einem harten Angriff auf Boris Johnsons Charakter und Urteilsfähigkeit genutzt. Im Unterhaus geriet der Regierungschef am Montagnachmittag auch seitens Parteifreunden unter schweren Beschuss. Er selbst entschuldigte sich, kündigte an, die Arbeitsweise in der Regierungszentrale zu verbessern. Er verstehe die Wut der Bevölkerung: "Ich verstehe es, und ich werde es in Ordnung bringen." Und er blieb dabei: "Ich mache weiter meinen Job."

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Nach wochenlangem Rätselraten war am späten Montagvormittag die Wartezeit endlich beendet. Die Spitzenbeamtin Sue Gray lieferte eine "Fortschreibung" ihres Untersuchungsberichts ab, in dem die Staatssekretärin ihre Bewertung der zahlreichen Lockdown-Partys in der Downing Street zusammengefasst hat. Fazit: Am Regierungssitz der sechstgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gab es "ernste Führungs- und Urteilsversagen" sowie "schwer zu rechtfertigendes Verhalten".

"Hätten nicht stattfinden dürfen"

"Zumindest einige der fraglichen Versammlungen stellen ein schwerwiegendes Versagen dar, nicht nur die hohen Standards einzuhalten, die von denjenigen erwartet werden, die im Herzen der Regierung arbeiten, sondern auch die Standards, die von der gesamten britischen Bevölkerung zu dieser Zeit erwartet wurden", stellte Gray fest. Einige der Treffen hätten nicht stattfinden oder sich in der Weise entwickeln dürfen, wie es letztlich geschah.

Sie forderte klare Regeln, die Trinkgelage am Arbeitsplatz verhindern. "Der übermäßige Konsum von Alkohol ist an einem professionellen Arbeitsplatz zu keiner Zeit angebracht." Zudem müssten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Lage sein, sich über ungebührliches Verhalten zu beschweren. Einige hätten zwar Bedenken äußern wollen, seien aber davor zurückgeschreckt, schrieb Gray.

Details der diversen Feiern blieb Gray mit Verweis auf Scotland Yard schuldig. Dort würden jetzt "500 Seiten Dokumente sowie mehr als 300 Fotos analysiert" und anschließend Zeugen befragt, teilte die zuständige Kriminaloberrätin Catherine Roper mit. Ihre Untersuchung werde "nicht länger als ein Jahr" dauern.

Änderungen angekündigt

Johnson kündigte am Montag im Unterhaus ein neues "Amt des Premierministers" mit einem eigenen Staatssekretär an. Seit mehr als zwei Jahrzehnten beschweren sich die Bewohner des Hauses mit der berühmten schwarzen Tür darüber, dass die Regierungszentrale den Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr entspreche. Er wolle außerdem die Regierungseffizienz durch bessere Koordination des Kabinetts stärken, sagte der Premierminister.

Als Reaktion auf sein Statement entzog ihm der frühere Kabinettsminister Andrew Mitchell das Vertrauen. Johnsons Vorgängerin im Amt, Theresa May machte in Bezug auf die Frage, ob der Premierminister seine Vorgehensweise ändern wird, ihre tiefe Skepsis deutlich. Auch andere Torys machten deutlich, dass sich der Regierungschef nicht auf ihre Unterstützung verlassen kann.

Lediglich ein "Update"

Indem sie ihren Bericht als Update kennzeichnete, signalisierte Staatssekretärin Gray, dass die Kontroverse noch lange nicht zu Ende sei. Schließlich hatte sich erst vergangene Woche nach langem Zögern die Londoner Polizeibehörde Scotland Yard dazu entschlossen, einem Teil der Verletzungen gegen geltende Corona-Bestimmungen innerhalb der Regierung nachzugehen. Die Rede ist von zwölf Events; Grays Gesamtliste umfasste 16 Zusammenkünfte, darunter auch Partys im Bildungs- und Finanzministerium.

Dass die Londoner Polizeipräsidentin Cressida Dick plötzlich auf den Plan trat, sorgte im Regierungsviertel Westminster zunächst für Aufregung, später für Misstrauen. Letzteres wurde vergangenen Freitag durch zwei Medienmitteilungen verstärkt: Man habe Sue Gray darum gebeten, "nur minimal" auf jene Ereignisse einzugehen, die von der Kriminalpolizei untersucht werden – logischerweise handelte es sich dabei um die offenkundigsten Lockdown-Verletzungen. Aber nein, hieß es wenige Stunden später, man wolle natürlich der Spitzenbeamtin keineswegs ins Handwerk pfuschen.

Dilettantische Öffentlichkeitsarbeit

Die dilettantische Öffentlichkeitsarbeit der wichtigsten Polizeibehörde des Landes spiegelt das Chaos von Dementis, Teilgeständnissen, Entschuldigungen und Ausflüchten wider, mit dem der Premierminister und seine Leute das Land in den vergangenen acht Wochen je nach Gemütslage entsetzt oder unterhalten haben.

Den ersten Bericht über eine Weihnachtsfeier im Advent 2020, als in London längst alle sozialen Zusammenkünfte verboten waren, hatte die Pressestelle der Downing Street noch zu bestreiten versucht. Kurz darauf tauchte ein Video auf, in dem sich Regierungssprecherin Allegra Stratton und Johnsons engste Mitarbeiter den Kopf darüber zerbrachen, wie sie die illegale Feier kennzeichnen sollten: "Es war nur 'Käse und Wein', können wir das sagen?" Stratton trat zurück, Johnson entschuldigte sich im Unterhaus und teilte mit, er habe von nichts gewusst: "Ich bin selbst wütend und angeekelt."

Geschürt von seinem früheren Ex-Chefberater Dominic Cummings, kamen immer neue Details ans Licht – auch über Events, an denen Johnson selbst zweifelsfrei teilgenommen hatte. "Ich dachte, es handele sich um ein Arbeitstreffen", entschuldigte er seine Anwesenheit bei einer Gartenparty, zu der sein Privatsekretär im Mai 2020 mehrere dutzend Menschen inklusive der Aufforderung "Bringen Sie eigene Getränke mit" eingeladen hatte. Schließlich stellte sich auch heraus, dass im Juni 2020 bis zu 30 Leute im Kabinettssaal dem Chef zum 56. Geburtstag gratuliert hatten, zusammengetrommelt von dessen Frau Carrie, damals 32.

54 Stimmen nötig

Mitte Jänner hatte es noch so ausgesehen, als würde sich die kritische Masse von 54 Tory-Abgeordneten finden, die für eine Misstrauensabstimmung gegen den Chef in der 359-köpfigen Fraktion nötig sind. In den vergangenen Tagen aber gingen Johnsons Unterstützer gegen die eigenen Fraktionskritiker in die Offensive.

Der nichtsahnende Premier sei "sozusagen mit einer Torte überfallen" worden, rechtfertigte Nordirland-Minister Conor Burns die illegale Geburtstagsfeier und konstatierte am Sonntagabend erleichtert: "Die Kollegen sind von der Felskante zurückgewichen." Die ganze Debatte sei "alberner Unfug", donnerte Ben Houchen, der direkt gewählte Regionalbürgermeister der Region rund um die Tees-Mündung im englischen Nordosten: "Wer für Boris' Rausschmiss votiert, stimmt unserer Niederlage bei der nächsten Wahl zu."

Ob dies erfahrene Politikerinnen und Politiker wie May und Mitchell auch so sehen? Von ihrer Reaktion wird abhängen, ob Johnson die schwere Krise überstehen kann. (Sebastian Borger aus London, 31.1.2022)