Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen wird im P4-Labor von Wuhan an Viren geforscht. Nahm dort die Pandemie ihren Ausgang? Der kritische Autor Liao Yiwu geht dem nach.

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Dass sich einer "wie üblich" in die "Rüstung seiner Schutzkleidung" zwängt, hätte uns als Romaneinstieg vor einigen Jahren noch in eine dystopische Welt versetzt. Inzwischen erscheinen diese Vorbereitungen nicht mehr so außergewöhnlich. Corona ist schuld, und um Corona geht es im Buch auch. Es ist Februar 2020, und Blogger Kcriss will untersuchen, ob "das Virus", dessentwegen Wuhan seit einem Monat im Lockdown ist, aus dem Virusforschungsinstitut der Stadt stammt. Die Gegend rund ums Labor ist militärisch gesperrt. Während Kcriss den Komplex observiert, beobachtet ihn die Polizei per Überwachungssystem Skynet.

Kcriss ist einer jener "Bürgerjournalisten", die sich in China täglich unter Einsatz ihrer Freiheit mit den Mächtigen anlegen, indem sie kritische Fragen stellen und ihre Recherchen über soziale Netze verbreiten. Er ist nicht nur eine Figur in Liao Yiwus soeben erschienenem "Dokumentarroman" Wuhan, es gibt ihn tatsächlich. Yiwu zeichnet in dem Buch u. a. die Stunden nach, bis die Polizei Kcriss’ Wohnung stürmt und ihn festnimmt. Kcriss streamt live.

Mit heißer Nadel gestrickt

Liao Yiwus regimekritische Bücher sind seit den 1980ern in China verboten, seit 2011 lebt er deshalb im Exil in Deutschland. In Wuhan setzt er sich mit Chinas Umgang mit dem Virus auseinander. Dokumentarroman bedeutet, dass Yiwu reale Figuren, Kommentare aus chinesischen Onlineforen, Verhörprotokolle, Untersuchungsberichte in den Text übernimmt. Tatsächlich ist die Romanhandlung stellenweise kaum mehr als ein Gerüst, um Dokumente und Originaltöne zu drapieren. Man spürt, hier hat einer mit heißer Nadel und Wut im Bauch gestrickt.

Literarisch macht das Wuhan wenig spannend. Das arrangierte Material zur Debatte, ob der Erreger von Fledermäusen direkt auf Menschen übergesprungen sein kann oder Ergebnis eines Laborunfalls ist, löst die Frage nicht. Wie denn auch.

"Kaiser" Xi auf PR-Besuch

Interessant für westliche Leser sind dagegen Einblicke in den chinesischen Überwachungs- und Kontrollstaat – ob es nun um Verhaftungen geht, um Infizierte, die sich angesichts überfüllter Krankenhäuser umbringen, statt in Heimquarantäne ihre Familie anzustecken, oder darum, dass in den ersten Virusmonaten Millionen Handynutzer aus dem System chinesischer Telekomanbieter gelöscht wurden, was offiziellen Opferzahlen widerspricht. In der Provinz ziehen derweil Volksmilizen nachts von Haus zu Haus und kontrollieren auf "vorschriftswidriges Liebemachen", das gegen Social Distancing verstößt. Wie es ist, wenn "Kaiser" Xi Jinping auf PR-Besuch nach Wuhan kommt, schildert Yiwu auch. Hier liegt seine Stärke. (Michael Wurmitzer, 1.2.2022)