In ihrem Gastblog plädiert die langjährige AHS-Direktorin Heidi Schrodt dafür, die Matura grundlegend zu überdenken.

Die Pandemie hat auch in unserem Bildungssystem Schwächen, von denen wir schon lange wussten, einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht. Wir haben großen Nachholbedarf im Bereich der Digitalisierung, es herrscht Unwissen hinsichtlich Distanzunterricht oder auch der Individualisierung des Unterrichts. Die Rolle, die den Eltern in unserem System zugedacht ist, nämlich die von Hilfslehrkräften, wurde in den letzten zwei Jahren in zahlreichen Familien zur Belastungsprobe. Die Leistungsbeurteilung ist noch immer sehr stark an punktuellen Überprüfungen ausgerichtet.

Die Elementarpädagogik ist im internationalen Vergleich nicht kompatibel, es fehlt an Schulen das sogenannte Supportpersonal, also Psychologinnen und Psychologen, Förderlehrkräfte, Schulsozialarbeitende, Zweitsprachen- und Muttersprachenlehrenden, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Hier nehmen wir unter vergleichbaren Ländern (OECD-Länder) eine der letzten Stellen ein. Schließlich ist die Bildungsungerechtigkeit hierzulande ganz besonders groß, und die Pandemie hat die Schere noch weiter auseinandergehen lassen. Und jetzt ist schließlich auch die Matura als Problem erkannt worden.

Die Belastung der Schülerinnen und Schüler

Was ist passiert? Bildungsminister Martin Polaschek kündigte an, die mündliche Reifeprüfung heuer wieder verpflichtend zu machen und nicht mehr, wie in den vergangenen beiden Jahren, ausschließlich freiwillig. Wer nicht antreten wollte, erhielt in den betreffenden Fächern die Note der Abschlussklasse in das Maturazeugnis.

Die Erleichterungen in diesem Jahr sollen Einschränkungen der Stoffgebiete bringen, an der vorwissenschaftlichen Arbeit darf zwei Wochen länger gearbeitet werden. Das rief heftige Reaktionen unter der Schülerschaft von AHS und BHS hervor. Schülerinnen und Schüler demonstrierten, an einer Reihe von Schulen wurde auch gestreikt. Der Jahrgang, der heuer die Reifeprüfung ablegt, sei durch die Pandemie besonders betroffen, argumentieren sie, zwei Jahre lang hätte kein regulärer Unterricht stattfinden können, und die psychischen Belastungen seien bei vielen enorm. Sie lehnen die Rückkehr zur verpflichtenden mündlichen Matura in diesem Jahr vehement ab und fordern, diese nur auf freiwilliger Basis ablegen zu dürfen.

Auch die Vertretung der ÖVP-nahen Schülerunion, die auf Verhandlungen statt Streik setzen, schließen sich der Forderung nach Wegfall der mündlichen Reifeprüfung an. Der Minister bleibt bei seiner Linie, auch Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm unterstützt diese und meint, auch die Berufsschülerinnen und -schüler würden es schließlich schaffen. Dass sie diese während der Pandemie besonders vernachlässigte Gruppe ausgerechnet in diesem Kontext ins Spiel bringt und gegen die Maturantinnen und Maturanten ausspielt, ist von einer für die Jugend zuständigen Politikerin doch einigermaßen erstaunlich.

Die mündliche Matura soll wieder wie gewohnt anlaufen - dagegen wird gestreikt.
Foto: APA/TOBIAS STEINMAURER

Matura noch zeitgemäß?

Was aber ist von den Forderungen der Schülerinnen und Schüler zu halten? Soll auch heuer die mündliche Reifeprüfung nur auf freiwilliger Basis abgelegt werden? Oder will „die zukünftige Elite des Landes jeder Schwierigkeit aus dem Weg gehen“, wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann in einem viel diskutierten Kommentar in der "Wiener Zeitung"  insinuiert? Wird die Matura entwertet, wenn jetzt zum dritten Mal keine mündliche Prüfung stattfinden sollte?

Es erscheint mir wichtig, sich auch im konkreten Fall einerseits die Ausnahmesituation, in die die Pandemie unsere Schulen gebracht hat, näher anzusehen, um eine Lösung zu finden, die den Betroffenen gerecht wird. Andererseits aber müssen wir uns endlich der Frage stellen, ob unsere Reifeprüfung noch zeitgemäß ist und ob sie überhaupt im internationalen Vergleich bestehen kann. Wie sieht es um die Hochschulberechtigung aus? Wie mit der Studierfähigkeit unserer Maturantinnen und Maturanten? Befähigt die österreichische Matura zum Studium an internationalen Universitäten?

Schwierige Jahre

Der heurige Maturajahrgang hat zwei sehr schwierige Jahre hinter sich. Je nach Schule fand mehr oder weniger Unterricht statt, konnten sich die Lehrerkräfte besser oder schlechter auf Distanzunterricht einstellen, konnten ihre Kriterien der Leistungsbeurteilung an die Ausnahmesituation anpassen oder auch nicht. Zwei Jahre lang hatten Jugendliche in einer der prägendsten Phasen des Heranwachsens über lange Strecken wenig oder phasenweise auch keine Kontakte zu Gleichaltrigen, was bei vielen psychische Störungen, Depressionen, Rückzug, oder auch (Internet-)Spielsucht hervorrief. An den Schulen fehlt bekannterweise das Personal, um hier Unterstützung zu bieten.

All das muss berücksichtigt werden, wenn man die Frage der Aussetzung der mündlichen Reifeprüfung diskutiert. Die Entscheidung muss jetzt fallen. Es ist nicht zu früh dafür und man kann nicht noch abwarten, wie sich die Pandemie entwickelt, wie manche grüne Politikerinnen und Politiker meinen.

Herbsttermin als Alternative

Vier Jahre Unterricht fließt in die Reifeprüfung ein, und die ganze 8. Klasse ist auf die Vorbereitung der Abschlussprüfung ausgerichtet. Ich finde die Forderungen der Schülerinnen und Schüler gerechtfertigt, heuer noch einmal die Matura nur auf freiwilliger Basis abzulegen. Das sollte aber viel stärker propagiert werden, gerade in Hinblick auf den internationalen Aspekt. Warum bietet man nicht an, die mündliche Matura freiwillig auch noch im Herbst ablegen zu dürfen? Das würde eine längere Vorbereitungszeit ermöglichen. Es gibt ja jedes Jahr Herbsttermine für die Kandidatinnen und Kandidaten, die es beim Haupttermin nicht geschafft haben. Diesen Herbsttermin könnte man all denen anbieten, die freiwillig zur mündlichen Prüfung antreten wollen, allerdings natürlich, ohne diese Prüfung bereits als Wiederholung anzurechnen. Die Termine sind immer so gelegt, dass ein Studium noch begonnen werden kann.

Die aktuelle Situation sollte aber zum Anlass genommen werden, sich endlich der Frage zu stellen, ob unsere derzeitige Form der Reifeprüfung die Absolventinnen und Absolventen international studierfähig macht. Derzeit ist sie vor allem auf das Studium an österreichischen Hochschulen und Universitäten ausgerichtet, und auch da passt vieles nicht mehr. Die meisten haben Zugangsbeschränkungen und Aufnahmeverfahren, die Matura allein reicht nicht mehr.

Grundlegendes Überdenken

Soll also die Matura ganz abgeschafft werden? Nein, aber sie sollte grundlegend überdacht werden. Wir sollten uns jedenfalls in Erinnerung rufen, dass die schriftliche Zentralmatura nur unter großen Widerständen eingeführt werden konnte. Und dennoch ist sie nur teilzentral, denn die Lehrpersonen korrigieren selber die Arbeiten, international unüblich. Wenn jetzt Stimmen aus der Lehrerschaft laut werden, die eine Rückkehr zur alten Form der Matura fordern, also ohne zentrale Vorgaben, so stimmt das sehr bedenklich. Und wer die mündliche Matura wegen der Möglichkeit lobt, sich rhetorisch präsentieren zu können, der spricht nicht aus der Praxis. Viel zu knapp bemessen ist einerseits die Zeit, die dafür vorgesehen ist, und andererseits fehlt auch eine jahrelange Vorbereitung dafür, wie etwa in angelsächsischen Ländern in einem eigens dafür vorgesehenen Fach. Am ehesten eignet sich die Präsentation der vorwissenschaftlichen Arbeit dafür, sich rhetorisch zu beweisen.         

Es ist zu fragen, ob die Matura in der derzeitigen Form zum Studium in aller Welt befähigt. Ich bezweifle das. Außerdem sollte endlich hinterfragt werden, ob wirklich alle Formen der Reifeprüfung für fast alle Studien berechtigen sollen. Da ohnehin die meisten Hochschulen und Universitäten bereits Aufnahmeverfahren haben, könnte man dazu übergehen, unterschiedliche Abschlüsse für unterschiedliche Studienrichtungen zuzulassen, wie dies in skandinavischen Ländern längst üblich ist.

Die Diskussion muss geführt werden. Der Minister ist gefragt. Ganz gewiss ist jedenfalls eines: Früher war es nicht besser. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war in unterschiedlichen Funktionen 40 Jahre lang bei Maturaprüfungen dabei. Nostalgie ist fehl am Platz. (Heidi Schrodt, 2.2.2022)

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