Die aktuell stark gestiegenen Energie- und Lebensmittelkosten belasten viele.

Foto: Regine Hendrich

"Gewaltige Ungleichheit", so der Titel des aktuellen Ungleichheitsberichts, den Oxfam jährlich veröffentlicht. Seit Beginn der Pandemie haben die zehn reichsten Männer weltweit ihr Vermögen verdoppelt, meldet die britische NGO – zugleich sind 163 Millionen Menschen zusätzlich unter die Armutsgrenze gerutscht. Um die kaum vorstellbaren Summen greifbar zu machen, hat Oxfam auf dem Cover US-Dollarnoten in den Himmel gestapelt. Würden die zehn Milliardäre sich auf ihr Vermögen setzen, wären sie fast schon auf dem halben Weg zum Mond, so die Botschaft.

Die Corona-Pandemie hat die soziale Ungleichheit massiv verschärft, besonders betroffen davon sind Frauen. Sie haben weltweit an Einkommen eingebüßt, zugleich leisteten sie unbezahlte Care-Arbeit wie Homeschooling oder die Pflege von Angehörigen. Angesichts dessen fordert Oxfam nicht weniger als einen radikalen Systemwechsel: Als handlungsleitendes Prinzip für wirtschaftliche Entscheidungen müsse das Gemeinwohl und nicht länger der Profit dienen.

"Corona ist die Pandemie der Ungleichheit", sagt auch Julia Hofmann, Referentin in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft der Arbeiterkammer Wien. Zwar sei die Datenlage für die Zeit der Pandemie noch dünn, doch erste Zahlen würden darauf hindeuten, dass auch in Österreich die Armut zunehmen werde. Eine Verschärfung der Situation könnte nicht allein die Pandemie, sondern auch eine Gesetzesänderung befeuert haben. So brachte Türkis-Blau die Sozialhilfe neu auf Schiene – ein Gesetz, das die Armutskonferenz scharf kritisiert. Es benachteilige unter anderem Menschen mit Behinderung und Frauen in Not, ein "leidvoll erlebter Rückschritt in effektiver Armutsbekämpfung in Österreich", so das Netzwerk in einer Aussendung zum Jahreswechsel.

Erwerbslos, aber vor Armut geschützt

Auch das Arbeitslosengeld ist in der Pandemie zunehmend in die Kritik geraten. Mit einer Nettoersatzrate von 55 Prozent des Erwerbseinkommens liegt Österreich deutlich unter dem OECD-Schnitt. Neun von zehn Erwerbslosen beziehen mit weniger als 1.200 Euro ein Einkommen unter der Armutsgrenze, so eine Sora-Befragung im Auftrag des Moment-Instituts. Besonders hart trifft das abermals Frauen, die vielfach in Teilzeit arbeiten. "Arbeitslosengeld rauf!", fordert deshalb ein Volksbegehren, das soeben genügend Unterstützungserklärungen gesammelt hat. Auf wenigstens 70 Prozent soll die Nettoersatzrate angehoben werden, so eine zentrale Forderung.

"Arbeitslose Menschen müssen ein existenzsicherndes Einkommen haben", sagt Daniela Brodesser, die das Volksbegehren unterstützt und als Aktivistin gegen Armut und Beschämung kämpft. Ein degressives Modell, wie es Arbeitsminister Kocher ansteuert, lehnt Brodesser ab. Das Arbeitslosengeld würde in diesem Fall nur zu Beginn der Arbeitslosigkeit höher ausfallen und mit Fortdauer wieder sinken. "Ein solches Modell würde höchstens als Bestrafung dienen", sagt Brodesser. Wer nach einigen Monaten keinen Job gefunden habe, sei eben selbst schuld, so die Botschaft. Strukturelle Faktoren würden dabei ausgeblendet.

Gerade Langzeitarbeitslosigkeit sei indes ein Problem, betont Julia Hofmann von der Arbeiterkammer. 115.743 Menschen waren im Dezember 2021 langzeitarbeitslos, meldete das Bundesministerium für Arbeit – deutlich mehr als im Vergleichszeitraum 2019.

Unter den Personen, die seit über einem Jahr beim AMS vorgemerkt sind, finden sich vor allem Menschen über 50, Erwerbslose mit gesundheitlichen Einschränkungen und mit niedriger Formalbildung. Langzeitarbeitslose Menschen seien am Arbeitsmarkt meist strukturell benachteiligt, sagt AK-Expertin Hofmann im STANDARD-Gespräch. "Das heißt, man bringt sie nicht in Beschäftigung, indem man ihnen das Geld kürzt."

Unbemerkte Langzeitfolgen

Aber auch abseits verfügbarer Statistiken werde die Pandemie langfristige Folgen haben, ist Hofmann überzeugt. Frauen hätten zwar nicht häufiger als Männer ihren Job verloren, dennoch werde sich die Zusatzbelastung durch unbezahlte Hausarbeit auch am Arbeitsplatz bemerkbar machen. "Ich musste vielleicht wegen der Kinderbetreuung im Lockdown meine Stunden reduzieren oder habe öfter gefehlt", so Hofmann. Karrieresprünge würden dann ausbleiben, die Position am Arbeitsmarkt geschwächt. "Solche geschlechtsspezifischen Ungleichheiten werden vermutlich zunehmen."

Auch die Folgen einer verschärften Bildungsungleichheit könnten erst in vielen Jahren in den Daten sichtbar werden, sagt Jana Schultheiß, die gemeinsam mit Kolleg*innen den Wohlstandsbericht der Arbeiterkammer koordiniert. Für sozioökonomisch ohnehin benachteiligte Kinder seien Schulschließungen besonders folgenreich gewesen. "Auch das werden wir erst wesentlich später am Arbeitsmarkt sehen. Dann ist es aber zu spät, um darauf zu reagieren", sagt Schultheiß.

20 Cent mehr

Als die ersten Schulen pandemiebedingt auf Fernunterricht umstellten, sei die Frage der technischen Infrastruktur völlig unter den Tisch gefallen, kritisiert indes Daniela Brodesser. "Da wurde einfach vorausgesetzt: Die Kinder bleiben daheim und arbeiten eben mit dem Laptop." Unzählige Anfragen erreichten Brodesser selbst, meist vermittelte sie Hilfesuchende an Initiativen, die kostenlos Computer umverteilen. Auch in Österreich, wo der Sozialstaat eine wichtige Umverteilungsfunktion erfüllt, existieren tiefe soziale Gräben. Während das oberste Prozent rund vierzig Prozent des Gesamtvermögens besitzt, gelten 17,5 Prozent der Bevölkerung als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.

Auch die aktuell stark gestiegenen Energie- und Lebensmittelkosten belasten Menschen entsprechend unterschiedlich. "Die Nudeln kosten 20 Cent mehr, etwas anderes zehn Cent – das fällt vielen Menschen beim Einkaufen gar nicht auf", sagt Brodesser. Für Armutsbetroffene seien drei, vier Euro mehr auf der Supermarktrechnung aber katastrophal.

Steigende Preise in so elementaren Bereichen wie Essen und Wohnen würden die Verteilungsfrage stärker in den Vordergrund treten lassen, sagt Politikwissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle auf STANDARD-Anfrage. "Auf Flugreisen und vielleicht auch Restaurantbesuche kann ich verzichten, aber nicht aufs Heizen oder auf Grundnahrungsmittel."

Debatte um Vermögenssteuer

Die Frage nach der Zukunft des Sozialstaats sei angesichts der Klimakrise und ausstehender Reformen wie etwa in der Pflege umso dringender, ist Jana Schultheiß überzeugt. Nur 0,3 Prozent des Steueraufkommens in Österreich kommt aus vermögensbezogenen Steuern – ein im internationalen Vergleich sehr niedriger Wert. Die Einführung von Erbschafts- und Vermögenssteuern ist in Österreich umstritten, oft stehe die Angst dahinter, selbst von einer solchen Steuer betroffen zu sein. In einer vom "Profil" im Frühjahr 2021veröffentlichten Umfrage stimmten immerhin 54 Prozent der Einführung einer Vermögens- und Erbschaftssteuer zu – für Vermögen ab einer Million Euro. "Der Vorbehalt gegenüber neuen Steuern ist hierzulande immer groß. Umso wichtiger ist es, die Diskussion mit gesellschaftlichen Zukunftsfragen zu koppeln", sagt Julia Hofmann.

Die reichsten Österreicher*innen haben die Pandemie indes "mühelos" überstanden, berichtete der "Trend". Unter den hundert Personen an der Spitze befinden sich ganze 46 Milliardär*innen. Von boomenden Aktienmärkten profitiere diese Gruppe überproportional, ihre Vermögen seien zuletzt spürbar gewachsen.

Armutsaktivistin Daniela Brodesser zeigt sich optimistisch, dass soziale Ungleichheit künftig stärker in den Fokus rücken wird. "Für mich ist enorm wichtig, dass Menschen die Struktur dahinter verstehen. Niemand wacht auf und beschließt: Ab heute lebe ich in Armut." (Brigitte Theißl, 1.2.2022)