Kinder mit der Diagnose ADHS tun sich unter anderem schwer damit, still zu sitzen. Ihr Bewegungsdrang ist sehr stark ausgeprägt.

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Sie können nicht lange stillsitzen, es fällt ihnen schwer, sich längere Zeit zu konzentrieren, und meistens bleiben sie auch im Schulunterricht weit hinter ihren Klassenkameraden zurück. Und das nicht, weil sie etwa nicht intelligent genug sind. Kinder und Jugendliche mit diesen Symptomen leiden oftmals unter der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS genannt.

Ist aber gleich jedes Kind, das etwa einen großen Bewegungsdrang hat, krank? "Nein", sagt Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien. "Um eine ADHS-Diagnose stellen zu können, müssen drei Dinge zusammenkommen, eine Aufmerksamkeitsstörung, motorische Hyperaktivität und Impulsivität." Nur wenn all diese Diagnosen auf ein Kind zutreffen, kann man von einer ADHS-Erkrankung ausgehen.

Etwa eines von 20 Kindern ist von der Diagnose ADHS betroffen. Die ersten Symptome treten meist schon im Volksschulalter auf. Sie können beispielsweise nur schwer zuhören oder Aufgaben zu Ende bringen, zappeln viel herum oder reden übermäßig viel, oft stören und unterbrechen sie dabei andere. "Erste Symptome müssen spätestens bis zum zwölften Lebensjahr aufgetreten sein und mindestens sechs Monate andauern", weiß Plener. Aber auch Jugendliche und Erwachsene können noch darunter leiden, etwa ein Drittel der Betroffenen braucht auch im Erwachsenenalter noch Therapien.

Ganzheitlich

Eine ADHS-Diagnose könne nur gestellt werden, wenn man verschiedene Bereiche gleichzeitig betrachte, betont Plener: "So eine Störung ist nie nur auf das Elternhaus oder nur auf die Schule bezogen, es gibt immer Auffälligkeiten in verschiedenen Bereichen. Bei der Anamneseerhebung sollte also unbedingt das Lehrpersonal miteinbezogen werden."

Nach der Diagnosestellung wird je nach Ergebnis eine individuelle Therapie gestartet. "Meistens wird eine multimodale Therapie mit Kombination aus zumindest drei Komponenten empfohlen. Vor allem bei jungen Kindern ist ein Elterntraining wichtig, weil Eltern den Alltag ihrer Kinder verstehen und strukturieren müssen. Dann wird mit den Kindern selbst nach Wegen gesucht, wie sie ihre Aufmerksamkeit lenken und verbessern können, und als dritte Möglichkeit kommen Medikamente zum Einsatz", so der Experte.

Ablenkungen vermeiden

Im ersten Schritt wird also gemeinsam erarbeitet, wie man den Alltag besser strukturieren und Ablenkungen vermeiden kann. Für viele scheint der Schluss nahezuliegen, dass vor allem Handy, Internet oder auch Fernsehen Auslöser von ADHS sein könnten. Aber: "Ein kausales Auslösen von ADHS durch Internet oder Social Media ist noch nie gezeigt worden", weiß Plener.

"Diese Dinge machen die Sache aber auch nicht besser. Das Problem ist, dass Betroffene, die sonst im sozialen Kontext nicht gut zurechtkommen, bei Computerspielen oder Social Media oft viele Erfolgserlebnisse haben." Meist gelingt es Menschen mit ADHS sogar besser, schnell auf gleichzeitig einströmende Reize zu reagieren. So beginnt aber eine Abwärtsspirale: Wenn Erfolgserlebnisse vor allem in der virtuellen Welt eintreten, dann wird der Weg für die Betroffenen ins soziale Leben immer schwerer. Ein wichtiger Schritt bei ADHS wäre es also, genau diese Ablenkungen zu vermeiden.

Buben sind übrigens deutlich häufiger von ADHS betroffen als Mädchen. Allerdings wurde die Störung in der Vergangenheit bei Mädchen oftmals nicht erkannt, da sie weniger Hyperaktivität aufweisen. Bei ihnen steht eher Unaufmerksamkeit und Verträumtheit im Vordergrund, bei den Buben ist die Hyperaktivität auffällig.

Autismus-Spektrum-Störungen

Eine weitere Krankheit, die bei Buben häufiger diagnostiziert wird als bei Mädchen, sind Autismus-Spektrum-Störungen. Den Betroffenen fällt es schwer, soziale Signale richtig zu deuten, sie nehmen ihr Umfeld oft sehr chaotisch wahr, ungewohnte Situationen überfordern sie schnell.

In der Regel sind erste Auffälligkeiten bereits vor dem dritten Lebensjahr sichtbar. Diese Kleinkinder können oft nicht zurücklächeln, suchen selten Blickkontakt und tun sich schwer, in soziales Spiel einsteigen. Bei weniger ausgeprägten Formen von Autismus-Spektrum-Störungen wird aber tatsächlich manchmal erst im Erwachsenenalter eine Diagnose gestellt. "Es gibt viele, die gut durchs Leben kommen, wenn sie in ihrer Nische bleiben. Aber wenn sie dort rausmüssen, kann es herausfordernd werden, und sie fangen an zu überlegen, ob mit ihnen etwas nicht stimmt", erklärt der Leiter der Universitätsklinik.

Ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung ist von Autismus-Spektrum-Störungen betroffen. Eine Selbstdiagnose ist dabei sehr schwierig. "Die Herausforderung besteht darin zu verstehen, wie gut ich im sozialen Kontakt mit anderen interagieren kann. Selbst ist das sehr schwer objektiv festzustellen." Plener empfiehlt: "Ich würde von einer Selbstdiagnose dringend abraten und mich in jedem Fall an psychologisches oder therapeutisches Personal wenden."

Wie Autismus-Spektrum-Störungen entstehen, ist noch nicht zur Gänze geklärt. Es dürften genetische Komponenten eine Rolle spielen, wie auch ein nicht optimal funktionierendes Zusammenspiel von weit entfernten Gehirnregionen. Eine Ursache schließt der Experte aber gänzlich aus: "Autismus-Spektrum-Störungen werden keinesfalls durch Impfungen verursacht."

Keine Heilung, aber Linderung

Da es bei Autismus-Spektrum-Störungen sehr viele Arten von Beeinträchtigungen gibt, muss immer eine individuelle Therapie zusammengestellt werden. Bei Patientinnen und Patienten, die nie sprechen lernen, braucht es ganz andere Fördermaßnahmen als beispielsweise bei Menschen, denen es schwerfällt, Emotionen bei anderen Personen erkennen und deuten zu können. In der Regel gilt: Je früher mit einer Therapie begonnen wird, idealerweise schon in den ersten Lebensjahren, umso besser lässt sich der Verlauf einer Autismus-Spektrum-Störung steuern. Gänzlich heilbar ist sie aber nicht. (Jasmin Altrock, 5.2.2022)