Im Gastblog geht der Archäozoologe Günther Karl Kunst der Sache auf den Grund, wann und warum wir Schildkröten gegessen haben.

Viele von uns waren im Sommer in Kroatien, Griechenland, der Türkei oder anderswo unterwegs. Da kann es schon vorkommen, dass einem im Gestrüpp eine Landschildkröte entgegenkommt. Oder man schaut den Wasserschildkröten zu, wie sie sich am Ufer eines Wasserlochs oder Grabens sonnen und hinein plantschen, sobald man näher kommt.

Amerikanische Schmuckschildkröte.
Foto: Pixabay/hebenstreit

Auch bei uns gibt es Schildkröten im Freien, zum Beispiel die Europäische Sumpfschildkröte im Nationalpark Donauauen, östlich von Wien. Dort sind sie recht schwierig zu beobachten, am besten geht das in einem Freigehege beim Nationalparkzentrum in Orth an der Donau. Häufiger sieht man schon große amerikanische Schmuckschildkröten im Ententeich im Park ungeniert auf einem Brett oder Baumstamm sitzen, das sind dann ausgesetzte Tiere.

Europäische Sumpfschildkröte in den Donauauen.
Foto: Gemeinfrei

Einheimische Tiere?

Wissenschafter sind sich nicht ganz einig darüber, ob die Sumpfschildkröten in den Donauauen „echt“ sind, also seit jeher dort gelebt haben, oder auf ausgesetzte Tiere zurück gehen. Auf jeden Fall gehören sie in die Landschaft, wie wir aus vielen urgeschichtlichen Fundstellen wissen. Praktisch überall, wo es klimatisch und vom Lebensraum her halbwegs passt – im ober- und niederösterreichischen Donauraum, im Weinviertel, im Burgenland, in der Südsteiermark, im Kärntner Seengebiet finden wir bei archäologischen Ausgrabungen die kleinen, robusten Knochenplättchen, aus denen sich die Schildkrötenpanzer zusammensetzen. 

Knochenpanzer der Schildkröte (Elisabethinenkloster Wien Landstraße, Grabung Novetus 2019).
Foto: Günther Karl Kunst

Frühe Funde

Die Funde beginnen mit der Jungsteinzeit ab 5600 v.Chr., und enden mit der Eisenzeit um das erste Jahrhundert v.Chr. Aus Wien gibt es Funde von der hallstattzeitlichen Siedlung auf dem Leopoldsberg (8.-5. Jh. v. Chr.). Dann kommt die Römerzeit mit Städten, Theatern und Militärlagern, aus denen viele zehntausende Tierknochen geborgen wurden – aber praktisch keine Schildkröten, gerade einmal ein winziges Panzerteil aus Carnuntum, und ein Gehäuse aus Pöchlarn, das wahrscheinlich als Instrumentenkörper gedient hat.

Vorerst keine Schildkröten in Sicht

Nach der Römerzeit kommen im Frühmittelalter mehr „ländlich“ konnotierte Jahrhunderte, die Menschen sind nicht nur Waldbauern, sondern jagen auch recht fleißig Hirsche, Elche, Wisente und Bären – aber Schildkrötenreste finden sich kaum. Das ändert sich auch im Hoch- und Spätmittelalter nicht (Stichworte: Burgen und ummauerte Städte). Dabei gibt es aus St. Pölten, Tulln und Wien spätmittelalterliche (14-15. Jh.) Latrinenverfüllungen, die Reste von Muscheln und Fischen aus dem Meer, von Krebsen und von den ungewöhnlichsten Vogelarten enthalten – aber eben keine Schildkröten.

Es folgt die frühe Neuzeit mit Renaissance und Humanismus: Auf seinen Landsitzen experimentiert der Adel mit modernster Technik und Alchemie, im Stadtgraben der Wiener Burg werden Löwen, afrikanische Strauße und die eben erst aus Mexiko importierten Truthühner gehalten.

Nach der ersten Osmanenbelagerung (1529) verfasst der aus der Oberpfalz stammende Schulmeister Wolfgang Schmeltzl einen „Lobspruch der Stadt Wien in Österreich“, worin er sich ausführlich dem Geschehen auf den verschiedenen Märkten widmet. Dabei bildet die Beschreibung des Fischmarkts den absoluten Höhepunkt – sie enthält die Beschreibung einer langen Reihe von Fischarten (Schille, Aal, Tück, Schierken, Sprenzling, Huchen, Aelten, Schiegeln, Barsche, Rotten, Näsling, Rothäugl, Stretzl, Neunaugen, Steinbeiß, Kräuterling) die gar nicht alle leicht zu identifizieren sind, aber auch hier werden keine Schildkröten erwähnt. Bei der Nutzung natürlicher Ressourcen werden durchaus Bedenken angemeldet:

Glaub' nicht, daß so viel Krebs' man erwischt, Wenn man zwei and're Lande ausfischt!

Und dann der tolle Reim:

Sechs Tonnen mit gesalz'nen Hausen, Stockfisch, daß Einem könnte grausen;

Hausen, das ist der sagenumwobene, bis zu mehrere Meter lange Donaustör! Weiter in der abschließenden Erkenntnis mündend:

Wer sich zu Wien nicht nähren kann, Ist überall ein verdorb'ner Mann!

Panzerreste im Bauschutt

Knapp nach 1600 beginnt Wien so richtig zu wachsen, überflügelt Prag, wird endgültig zur Residenzstadt und zum Mittelpunkt des Habsburgischen Länderkonglomerats, die Gegenreformation setzt sich durch. Wie in Österreich üblich, drücken sich neue Zeiten in umfangreichen Bauvorhaben aus. Nach einigem Hin und Her übernehmen 1614 die Jesuiten die Verwaltung der Universität, alle mittelalterlichen Universitätsgebäude werden abgerissen, das Gelände einplaniert und ein imposanter barocker Neubau (in der Bäckerstraße) errichtet. In der Kartause Mauerbach (Bezirk St. Pölten-Land, bei Wien) kommt es ab 1616 zu einem Umbau, der praktisch einer Neuerrichtung der ganzen Anlage gleichkommt – das Ergebnis ist der riesige, irgendwie überdimensioniert und manchmal unheimlich wirkende Gebäudekomplex, wie wir ihn heute kennen. Rund hundert Jahre später wird das Elisabethinenkloster in Wien-Landstraße errichtet und das Minoritenkloster in Krems-Stein umgebaut.

In allen diesen Gebäuden, und noch in einigen mehr, wurden in den letzten Jahren archäologische Untersuchungen durchgeführt, und im Bauschutt fanden sich Panzerreste und andere Knochen von Sumpfschildkröten, oft auch von der Griechischen Landschildkröte. Manchmal nur wenige unter der Masse der Rinder- und Schweineknochen, manchmal gehäuft zusammen mit Fischresten und anderen sogenannten Fastentieren. Wenn man mit Tierknochenaufsammlungen aus dieser Zeit zu tun hat, die aus dem Wiener Raum, aus Graz, aus St. Pölten oder einem anderen urbanen Zentrum oder Kloster auf dem Gebiet des östlichen Österreich stammen, kann man mit einiger Sicherheit Schildkrötenteile erwarten. Rechnungen belegen sogar einen einschlägigen Konsum im Salzburger Lungau.

Schüttung von Knochenfunden aus dem Elisabethinenkloster in Wien-Landstraße.
Foto: Günther Karl Kunst

In der Fastenzeit erlaubt

Was war geschehen? Gefastet hatte man natürlich auch schon vor der Zeit um 1600: Einschließlich aller Freitage, des Advents und der Fastenzeit vor Ostern war der Fleischkonsum, also Fleisch von warmblütigen Tieren wie Säugern und Vögeln, an rund der Hälfte aller Tage des Jahres verboten, zumindest für Katholiken. Fische und Krebse dagegen waren erlaubt. Der Gebrauch wasserlebender Tiere als Fisch-Ersatz scheint sich gewohnheitsrechtlich durchgesetzt zu haben, speziell zu den Schildkröten gibt es ein Dokument von Papst Hadrian VI. (1522-1523), das den Konsum dieser Tiere als Fastenspeise ausdrücklich erlaubt. Dazu gibt es archäologische Befunde von zwei Bettelorden aus Rom zu dieser Zeit, und Hinweise aus spanischen Kartausen.

In Österreich ging es am „ärgsten“ in Mauerbach zu, denn im Kartäuserkloster wurde – zumindest von den Mönchen – das ganze Jahr über Fastenkost gegessen, sprich, kein Fleisch warmblütiger Tiere verzehrt. Hier waren in den Grabungsstellen ganze Schichtbereiche aus Schildkrötenknochen aufgebaut. Aus einer Latrine, die beim Umbau des alten Klosters verfüllt wurde, wurden dementsprechend ausschließlich Reste von Fischen, Schildkröten und anderen wasserlebenden Tieren wie zum Beispiel dem Biber geborgen. In anderen Bereichen wurden Reste von Fischottern und Teichhühnern gefunden. Natürlich sind Klöster, Schlösser und so weiter archäologisch am besten erforscht, wir wissen aber auch vom Schildkrötenkonsum in Privathaushalten und deren Verkauf auf Wiener Märkten, den deutsche Forschungsreisende wie Johann Basilius Küchelbecker im 18. Jahrhundert mit großem Interesse beobachten.

Kapitel zur Schildkröte aus der Georgica curiosa.
Screenshot: Helmut W. Klug

Zwischen Haltung und Nahrung

Wenn Ressourcen knapp werden, ist es naheliegend, dass man versucht, diese selbst zu produzieren und zu züchten. In Mauerbach bestand ein eigener Schildkrötengarten, ein regelrechtes Freilandterrarium für Wasser- und Landschildkröten, wie aus alten Ansichten hervorgeht. Der Offizier, Gutsbesitzer und Agrarschriftsteller Wolf Helmhard von Hohberg (1612-1688) berichtet in seiner Georgica curiosa, einem Landwirtschafts-Almanach und Lehrbuch, von einem Besuch bei einem Freund auf Schloss Salaberg bei Haag im Bezirk Amstetten: Die Sumpfschildkröten werden in flachen Wasserbecken gehalten, am Rand liegt in mustergültiger Form ein Brett, auf dem die Tiere heraussteigen und sich sonnen können. Eier legen sie am ehesten in Sand ab (was aber selten vorkommt). Eine ähnliche Darstellung kennt man von Schloss Loschberg im Waldviertel. Die Grabungsfirma Novetus hat vor zwei Jahren im Elisabethinenkloster auf der Landstraße anscheinend solche Schildkrötenbecken dokumentieren können, vielleicht verbergen sich auch noch manche in alten Parkanlagen. Es finden sich in Wien auch einige sehr naturgetreue Plastiken aus der Barockzeit und später.

Nicht immer ist klar auszumachen, wo die barocke Freude an der Freilandterraristik endet, und die Hälterung von Nahrungsreserven anfängt. Aus der ehemaligen Kartause Aggsbach in der Wachau kennen wir den rachitisch verformten Panzer einer Landschildkröte, genauso wie er bei unsachgemäßer Pflege in der Wohnung entsteht. Auch manche Panzerplatten aus dem Elisabethinenkloster deuten auf eine Gefangenschaftshaltung. Von hier stammt auch ein Beleg, dass die Tiere wirklich zubereitet und gegessen wurden, und der ist just vom Bauchpanzer einer Landschildkröte, die tiefe Schnittspuren aufweist. Sonst bleiben an den Knochen nur selten Kochspuren erhalten.

Knochenpanzer der Schildkröte mit Schnittspuren (Elisabethinenkloster, Wien Landstraße).
Foto: Rudolf Gold

Schildkrötenrezepte

Natürlich kennen wir viele Rezepte, die sich in Kochbüchern bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts halten. Etwa eben so lang ist der Verkauf von Sumpfschildkröten auf Wiener Märkten nachweisbar, hatte aber kaum mehr eine Bedeutung. Die Schlacht- und Zubereitungsmethoden, die in den Kochbüchern geschildert werden, sind ziemlich drastisch, nichts für Zartbesaitete. Teilweise hat man den Eindruck, dass magische Vorstellungen eine Rolle spielen.

Man zergliedert drey überbrühte ausgelöste Schildkröten ganz klein, macht eine Einbrenn, gibt die Schildkröten hinein, dünstet sie ab und lässt sie, wenn man Petersilienwasser darüber gegossen hat, aufssieden, drückt Limoniensaft daran, thut Limonienschalen, Gewürz und Saffran dazu, und richtet die Suppe über gebähte Semmelschnitten an

Die Zubereitungsanleitung aus dem Neuesten Universal- oder Großen Wiener-Kochbuch der Anna Dorn (Wien 1827), ist dabei noch am harmlosesten. Vom Nachkochen wird dringend abgeraten, auch aus Artenschutzgründen.

Eintrag zur Schildkröte aus dem Kochbuch des Marx Rumpolt (1581) im DTA.
Screenshot: Helmut W. Klug

Die Spezialisierung auf Schildkröten als Fastenspeise scheint ein typisch österreichisches Phänomen zu sein, das mit der Ausprägung der Gegenreformation zu tun hat. Oder mit einem Faible für das Südländisch-Italienische, wie es sich auch in der Architektur und Musik äußerte. In den Nachbarländern finden sich keine Hinweise darauf – nicht im katholischen Bayern, nicht in Böhmen und Ungarn – und alle diese Länder sind archäozoologisch gut erforscht. Nur aus Ljubljana in Slowenien gibt es einzelne Funde. Die Tiere wurden offensichtlich aus dem Süden und Osten importiert, es gibt einige Dokumente dazu. Ein äußerst aufwändiger Fastenbrauch! Ein einheimischer Bestand von Sumpfschildkröten hätte ein fokussiertes Absammeln bestimmt nicht lange überstanden, und die Landschildkröten kamen ohnehin nie bei uns vor.

Für die Archäologie trifft mindestens das zu, was über Ratten im städtischen Raum gesagt wird – eine gesehen, zehn im Verborgenen: Funde sind stets Zufall, das meiste geht verloren oder wurde erst gar nicht eingebettet. Die tatsächlich im Umlauf befindlichen Mengen an Schildkröten müssen gewaltig gewesen sein. Dieser Schildkröten-Boom dauert in Wien etwa zweihundert Jahre, ehe er im 19. Jahrhundert allmählich ausläuft. (Günther Karl Kunst, 11.2.2022)

Literatur

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