Die Tourismusindustrie parkt besonders gern Mitarbeiter beim AMS in der Saison zwischen.

Das Coronavirus hat der Regierung einen Strich durch die Rechnung gemacht und die Vorarbeiten an der geplanten Arbeitsmarktreform gebremst. Im Dezember war zunächst unklar, wie es angesichts der neuen Omikron-Variante am Jobmarkt weitergeht.

Die Katastrophe blieb aus, die Zeichen deuten auf Entspannung hin, und so will sich das Arbeitsministerium unter Martin Kocher in den kommenden Wochen wieder intensiv dem Reformvorhaben widmen. Am 7. März ist eine abschließende parlamentarische Enquete mit Stakeholdern geplant, dann wollen ÖVP und Grüne verhandeln. Aus Gesprächen mit in die Beratungen involvierten Personen lassen sich bereits Umrisse eines Plans erahnen.

Die alte Überlegung, die der Ökonom Kocher schon bei seinem Amtsantritt vor einem Jahr lancierte, war, ein degressives, also absinkendes, Arbeitslosengeld einzuführen. Damit sollen zwei Ziele verfolgt werden: Zunächst soll der finanzielle Absturz nach einem Jobverlust abgefedert werden. Aktuell bekommen Menschen in Österreich, die arbeitslos werden, im Regelfall 55 Prozent ihres letzten Nettoverdienstes als Arbeitslosengeld – dazu kommen Familienzuschläge. Das ist im europäischen Vergleich recht wenig.

Zugleich soll durch das sinkende Arbeitslosengeld der Anreiz steigen, sich um eine Stelle zu bemühen. Angesichts von fast 110.000 beim AMS gemeldeten offenen Stellen ist das Ziel verständlich. Ob Degression der richtige Weg ist, bleibt strittig.

Grenzen der Grünen

Die Grünen haben klargestellt, dass es mit ihnen keine Kürzung der Leistungen unter das aktuelle Niveau geben wird. Doch es gibt Ideen, wie die ÖVP ihr degressives Modell bekommen und die Grünen dennoch damit leben könnten. Dem Vernehmen nach hält Kocher an dem Degressionsplan fest.

Die Ersatzrate beim Arbeitslosengeld könnte steigen, etwa auf 65 Prozent, um dann auf die aktuellen 55 Prozent zu fallen. Dann kommt ohnehin noch eine dritte Stufe: Nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes folgt die Notstandshilfe, die meist um die 92 Prozent vom Arbeitslosengeld ausmacht. Bei jemandem mit typischen Arbeitslosengeldbezug würde das so aussehen: Nach 1060 Euro würde dieses auf 900 Euro (aktuell der Satz) und dann noch einmal auf 828 Euro sinken.

Dieses degressive Modell wäre mit den Grünen machbar, weil niemand verliert. Kernproblem: Die Ersatzraten anzuheben kostet Geld.

Eine Lösung könnte sein, eine generelle Wartefrist von zwei Wochen beim Arbeitslosengeld einzuführen. Da solche Maßnahmen alle Arbeitslosen betreffen würden, wäre Geld freigemacht für eine Anhebung der Sätze. Aktuell gibt es eine vierwöchige Wartefrist nur bei Selbstkündigung.

Eine Wartefrist ist noch aus einem anderen Grund interessant: Von den neu in Arbeitslosigkeit eintretenden Menschen haben etwa 40 Prozent eine Wiedereinstellungszusage von ihrem früheren Dienstgeber. Auch von den Arbeitslosen ohne Einstellungszusage kehrt jeder Fünfte zum vorigen Arbeitgeber zurück. Diese Dienstnehmer werden oft für wenige Monate "zwischengeparkt" beim AMS, weil das für Betriebe günstiger kommt. Besonders im Saisontourismus ist das beliebt.

Zwischenparken

Eine Wartefrist könnte dazu führen, dass dieses Zwischenparken weniger attraktiv wird, weil Arbeitnehmern Einbußen drohen. Doch die Idee ist nicht unheikel: Sollten Arbeitslose finanziell Verluste erleiden, weil sie mit Wartefrist und Anhebung der Beiträge schlechter aussteigen als vorher, wäre das für die Grünen nur schwer zu verdauen.

Eine Idee wäre, Kosten dieser Periode aufzuteilen, sodass auch Unternehmen etwas mitzahlen. Der Ökonom Helmut Mahringer vom Forschungsinstitut Wifo hat solche Modelle in einem Paper analysiert. In den USA zahlen Arbeitgeber, die besonders freudig Mitarbeiter kündigen, meist etwas höhere Beiträge in die Arbeitslosenversicherung ein. Eine "praktische Alternativoption" wäre demnach für Österreich, wenn Unternehmen im ersten Monat das Arbeitslosengeld zahlen, wenn sie selbst Mitarbeiter kündigen, heißt es im Paper.

Ob die von der Saisonthematik betroffene Tourismusindustrie, die einen guten Draht zur ÖVP hat, hier Einschnitte akzeptieren würde, bleibt aber mehr als fraglich.

Gar nicht tangiert ist damit noch die Frage, ob eine Degression überhaupt eine Wirkung hätte. Die wissenschaftlichen Fundamente dafür, dass ein degressives Modell einen Effekt hat, sind dürftig.

Ein im American Economic Journal: Applied Economics erschienenes Paper wird gern zitiert: Die Ökonomen Attila Lindner und Balázs Reizer untersuchen darin, wie sich die Einführung eines degressiven Arbeitslosengeldes in Ungarn 2005 auswirkte, bei dem zunächst etwas mehr und dann etwas weniger bezahlt wurde. Dieses "front loading" hat etwas bewirkt. Die Menschen kamen etwas schneller zu Arbeit. Aber die Effekte waren nicht sehr groß, und die ungarische Arbeitslosenversicherung, in der es nur sehr kleine und kurze Auszahlungen gibt, ist nicht wirklich mit dem Modell in Österreich vergleichbar, sagt die Arbeitsmarktökonomin Andrea Weber von der Central European University in Wien.

Viele reden mit

Bei der Reform soll es ohnehin nicht bloß um Degression gehen. Erwartet werden auch Änderungen bei der Bildungskarenz. Wer mit dem Arbeitgeber eine Bildungskarenz vereinbart und die Voraussetzungen erfüllt, kann Bildungsgeld vom AMS beantragen, etwa für ein Studium. Dabei reicht es, nach sechs Monaten nachzuweisen, dass Prüfungen im Ausmaß von vier Semesterwochenstunden absolviert wurden. Eine niedrige Schwelle, die angehoben werden könnte.

Als wahrscheinlich gilt auch eine Änderung bei Zuverdienstregeln. Derzeit gilt, dass Arbeitslose geringfügig (485,85 Euro) dazuverdienen können. Hier soll es Einschränkungen geben. Im Gespräch sind zeitliche Befristungen beim Zuverdienst und Regelungen zur Anrechnung.

Wann kommt die Reform: Arbeitsminister Martin Kocher.
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Die Teilzeithürde ist hart, wer einen Euro mehr verdient, verliert sein Arbeitslosengeld. Arbeitssuchende könnten begrenzt auch mehr Stunden arbeiten als bisher. Aber ein Teil des Zuverdienstes könnte dafür beim Arbeitslosengeld gegengerechnet werden. Für Langzeitarbeitslose werden keine Einschränkungen erwartet. Hier gilt eine geringfügige Beschäftigung als Hilfe zum Wiedereinstieg.

Dazu kommen noch Forderungen der Grünen. Deren Arbeitsmarktsprecher Markus Koza fordert mehr Investitionen in die "ökosoziale Transformation". Gemeint ist, die Um- und Weiterbildung zu fördern, also Arbeitslose zum Beispiel bei Umschulungen auf grüne Technologien besser finanziell abzusichern. Auch Familienleistungen beim AMS sind ein Thema, wo die Grünen Gesprächsbedarf sehen. Für Kinder bekommen Arbeitslose 97 Cent Zuschlag am Tag, der Betrag ist seit Jahren nicht angehoben worden.

Im Arbeitsministerium hält man sich bedeckt. Noch sei nichts fixiert. Auch dort weiß man, dass wegen der vielen tangierten Interessen Reformen schwer durchzubringen sind. Neben ÖVP und Grünen reden auch Sozialpartner, Industrie und Touristiker mit. Nach dem Ende des Reformdialogs mit Stakeholdern will das Ministerium noch im ersten Halbjahr einen Gesetzesvorschlag auf den Tisch legen. Dann wird feststehen, in welche Richtung die Reise geht: großer Wurf oder Würfchen. (András Szigetvari, 4.2.2022)