Bild aus einer postfaktischen Gesellschaft: eine Corona-Demonstration im Jänner 2021 in Wien.

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Zu Jahresende erreichte der gut organisierte Widerstand gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen auch das Südburgenland: Über den Hauptplatz von Stegersbach ertönte die übliche Kampfrhetorik, mit dabei Politiker aus Deutschland, offenbar AfD. Anschließend wollten die Demonstranten ins nahegelegene Kunstcafé und reagierten aufgebracht, als der Betreiber auf der Einhaltung der 2G-Regel bestand. Kurz darauf wurde er auf Facebook als "Nazi-Schwein" beschimpft …

Dieses Phänomen kennt man, seit die Corona-Leugner aktiv sind: Fakten werden verdreht, die Verhältnisse einfach umgekehrt, und wir Vernunftbegabten und Verantwortungsbewussten, die in der Corona-Impfung den lebensrettenden Sinn erkennen, sind plötzlich die Nazis von gestern, während die Impfverweigerer und Schwurbler, die mit amtsbekannten Neonazis und Identitären aufmarschieren, sich als die von staatlicher Repression Verfolgten, ja, die "Juden" darstellen.

Aufklärung war gestern

Wenn man ihnen zuhört, denkt man, die Aufklärung war gestern, oder vielmehr, sie ist nie richtig bei uns angekommen. Aufklärung bedeutet, vereinfacht gesagt: durch Vernunft zur Erkenntnis gelangen. Persönliche Handlungsfreiheit ist ebenso das Ziel wie das Gemeinwohl als Staatspflicht. Vielleicht hat man Letzteres schon vergessen oder nie richtig begriffen. Esoterik und rechtes Gedankengut haben sicher nichts mit Erkenntnis zu tun.

Verschwörungstheorien sind nur ein heutiges Wort für jenen Aberglauben, dem die Aufklärung zu Leibe rücken wollte. Aber jetzt? Die Frage, ob wir tatsächlich bereits in einer postaufklärerischen (oder besser: unaufgeklärten), unsolidarischen, postfaktischen Gesellschaft leben, wird mit der "Öffentlichkeitsarbeit" der Impfverweigerer fast schon täglich mit Ja beantwortet.

So harmlos der Glaube an Globuli, die Macht des Gebets oder an das eigene "gesunde" Immunsystem vielen auch erscheinen mag, die solcherart praktizierte Unvernunft greift das gesellschaftliche Gefüge an, und der zunehmende Autoritätsverlust des Staates untergräbt die Demokratie. Dabei hat nicht durch Corona eine "Spaltung" der Gesellschaft stattgefunden, Corona hat nur sichtbar gemacht, dass es eine antiaufklärerische Minderheit gibt, die sich das Recht herausnimmt, sich gegen das Gemeinwohl der Mehrheit zu stellen.

Von wegen "Wir sind das Volk"! Das mögen vielleicht 20, schlimmstenfalls 30 Prozent sein, aber es gelingt ihnen, die staatlichen Institutionen zu erschüttern – so wie es den Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren, ebenfalls nur eine Minderheit, gelungen ist, die Mehrheitsgesellschaft so gezielt zu terrorisieren, dass das demokratische System zerstört werden konnte.

Widerliche Vergleiche

In dieser Gemengelage sind vielleicht weniger die rechten Spinner die eigentliche Gefahr als vielmehr jene, die sich als "friedliebende Bürger" deklarieren, selbstgerecht von "zivilem Widerstand" reden und gar nicht bemerken wollen, was hier abläuft. Es stört sie nicht, dass in ihren Reihen Menschen mit gelben Judensternen und Abbildungen des Auschwitz-Lagertors mitmarschieren. Die widerlichen Vergleiche sind ihnen offenbar egal, sie verstehen vielleicht nicht einmal, dass das alles nichts mit zivilem Ungehorsam zu tun hat: Diese Gleichsetzungen sind nicht bloß dumm, sie relativieren, verharmlosen und verhöhnen den Holocaust.

Auf Stickern steht "Impfen ist Mord" nicht zufällig in gotischen Lettern geschrieben, sodass man schon optisch an Neonazi-Embleme erinnert wird. Als vor einem Jahr ein FPÖ-Gemeinderat im niederösterreichischen Bischofstetten den mittlerweile bekannten Schriftzug "Testen macht frei" mit dem Lagertor von Auschwitz postete, war das besonders geschmacklos, weil eine Familie eben aus Bischofstetten 1944 in Auschwitz ermordet worden war. War das Posting nur gedankenlos?

Auf Nachfrage reagierte der FPÖ-Gemeinderat wie erwartet uneinsichtig: "Ich habe mir gedacht, das passt mit dem Einsperren. Bei den angedachten Maßnahmen darf ein Nicht-Geimpfter das nicht und darf das nicht – ein Jude darf das nicht und darf das nicht, deshalb stimmt für mich der Vergleich sehr wohl." In Bischofstetten ging es damals auch um ein Gedenkzeichen für die einzige jüdische Familie im Ort, das Thema wurde im Gemeinderat diskutiert, ohne viel Verständnis.

Wie geht das alles zusammen? Das Irrationale ist ein Zeichen der Szene, auch die Opferinszenierung ...
Foto: Imago / SEPA - Media / Isabelle Ouvrard

Man könne nicht für alle Menschen, die im Krieg gestorben sind, eine Tafel machen, ließ der Bürgermeister (ÖVP) wissen. (Hans Rauscher hat hier im STANDARD darüber berichtet.) Mittlerweile gibt es die Gedenktafel doch, sie wurde ausschließlich mit privaten Mitteln finanziert. Bei der Enthüllung vergangenen Herbst war niemand von der Gemeinde zugegen.

Österreichische Gedenkkultur

Mit den Corona-Leugnern hat das zwar nichts zu tun, das ist österreichische Gedenkkultur, wie wir sie auch schon vorher kannten. Und doch kreuzen beide Probleme einander. Impfverweigerer demonstrieren Seite an Seite mit Neonazis und suggerieren, dass das, was jetzt passiert, nichts anderes sei, als was auch unter den Nazis geschehen sei. Sie identifizieren sich mit Anne Frank oder Sophie Scholl, präsentieren sich als Opfer des Faschismus und machen die tatsächlichen Opfer damit lächerlich.

Diese Bedeutungsumkehr wird entsprechend inszeniert: mit Mahnwachen, Fackelzügen, Fahnen. Dazu Nazibegriffe wie "Lügenpresse" und "Systemzeitungen". Noch handelt es sich um den radikalen Irrsinn einer Minderheit, aber sie macht den Staat hilflos. Genau das wollen die Impf-, in Wahrheit Staatsverweigerer erreichen.

Wie viele rechte Träume bei den Demonstrierenden tatsächlich mitschwingen, mag man nur vermuten, allen gemeinsam ist der antiaufklärerische Impetus, mit dem sie agieren. Manche wirken auch schon optisch ein wenig aus der Zeit gefallen.

Einschlägige Sager: Herr K. auf einer Corona-Demo.
Screenshot: Konformistische Rebellen / Youtube / Presseservice Wien

Zum Beispiel Herr K., der kurzfristig zum Youtube-Helden wurde, seit er vor der Ärztekammer in Wien ins Mikro plärrte: "Herr Szekeres, treten Sie zu rück, Sie sind eine Schande …" Herrn K., der einmal praktischer Arzt war, erkennt man schon von weitem: Er tritt im Schladminger auf, trägt Lodenhut und hat einen Rauschebart. So stellt man sich einen Förster irgendwo im Gebirge vor hundert Jahren vor.

Zu Hause ist Herr K. allerdings in der "Industrie- und Eisenbahnerstadt" Amstetten. Dort war er einmal FPÖ-Chef, bis es sogar der FPÖ zu viel und Herr K. aus der Partei ausgeschlossen wurde. Damals hatte er noch geträumt, Gesundheitsminister zu werden, dann, wenn die "Wende" kommt und Jörg Haider die Republik erobert hat … Im Amstettner Gemeinderat fiel Herr K. immer wieder durch einschlägige Sager auf, die er auf Nachfrage nicht erklären wollte: Die Verbotsgesetze würden ihn daran hindern …

Jahrhundertverbrechen!?

Jahrzehntelang war es ruhig um Herrn K., bis Corona kam. Seither kann man ihn auf Demos und bei Info-Ständen, etwa der rechtskonservativen "Initiative Heimat & Umwelt", antreffen, die "aufklärerisch" durch die Bundesländer tourt. Oder man kann ihn im Video-Blog der amtsbekannten Aktivistin Jennifer Klauninger erleben.

In Amstetten hat man sich daran gewöhnt, dass sich Herr K. an keine Corona-Auflagen hält, auch nicht, wenn ihn die Polizei dazu auffordert, wie bei einer Demo am 12. Dezember geschehen. Ein Video zeigt ihn, wie er aufgebracht vor den Polizisten herumschreit: "Gehts an die Grenze unsere Sicherheit schützen und tuts nicht die Bevölkerung unterdrücken! Eine Schande!" Immer wieder schreit er: "Jahrhundertverbrechen!", was seiner Meinung nach die Corona-Impfung bedeute. Die Menge kreischt, junge Frauen mit ihren Kindern klatschen Beifall.

Jahrhundertverbrechen? War das nicht der Zweite Weltkrieg mit über 70 Millionen Toten? Der Holocaust mit mehr als sechs Millionen Ermordeten? Die Relativierung geschichtlicher Fakten ist offenbar zentraler Bestandteil dieser "Bewegung", doch beginnt diese Verharmlosung nicht mit Corona: Dass ein AfD-Politiker die Naziverbrechen als "Fliegenschiss" der Geschichte bezeichnet hat, war Jahre davor. Die Impfverweigerer springen da nur auf einen fahrenden Zug auf.

Die übliche Hatespeech

Eine Woche später eine ähnliche Szene bei einer illegalen Demo in Wien. Diesmal wird Herr K. von der Polizei verhaftet. Zwei Polizisten greifen ihn links und rechts, ziehen ihn aus der johlenden Menge, die lautstark immer wieder "Hurenkinder!" schreit. Die Polizei als klassisches Feindbild.

Das Video wird auf Youtube entsprechend gepostet: "Ein Held wird verhaftet", kann man dazu lesen, von Dollfuß und Gestapo ist die Rede, die Polizei wird als "Bullen-SS" oder "KZ-Aufseher", der Ärztekammerpräsident als "Dr. Mengele" bezeichnet. Ein Poster namens "burli0071" schreibt: "Ich freue mich schon tierisch auf die neuen Nürnberger Prozesse und die darauf folgenden Massenhinrichtungen der verantwortlichen Hochverräter."

Und natürlich die übliche Hatespeech bis hin zu Gewaltaufrufen: "Ihr müsst sie knüppeln", schreibt einer unter dem Usernamen "schwarz weiß rot": "Pfefferspray funktioniert wunderbar und anschließend eine überziehen." Gemeint ist die Polizei. Mit ähnlich pöbelhaften Kommentaren wurde einst die Demokratie auf der Straße weggemobbt.

Das Irrationale als Kennzeichen

Dabei, welch Widerspruch, heften sich die Corona-Demonstranten doch die Sorge um die Demokratie an ihre Fahne. Aber was verstehen sie darunter? Sie skandieren "Friede, Freiheit, keine Diktatur", pochen auf ihre Grund- und Freiheitsrechte – und gleichzeitig bespucken sie Journalisten, attackieren sie verbal und physisch, drohen Wissenschaftern, Politikern und sogar medizinischem Personal mit Mord. Sie reden von faktenbasierter Evidenz und bekunden mit jedem Argument ihre Wissenschaftsfeindlichkeit, das untrüglichste Zeichen der Anti-Aufklärung.

Wie geht das alles zusammen? Das Irrationale ist längst ein Kennzeichen dieser Szene, so wie Hass und Gewaltbereitschaft. Auch die Opferinszenierung erinnert an die Nazis, deren Feindbild war auch das "System", und hinter allem stand für sie die jüdische Weltverschwörung.

Heute kann man auf Corona-Demos – die gern harmlos als "Spaziergänge" angekündigt werden (die Nazis nannten das provokant "Bummel") – wieder den Namen Rothschild hören, und aus dem Ärztekammerpräsidenten Szekeres wird in einschlägigen Foren ein "Stinkeres". Die antisemitischen Stereotype sind schnell wieder da.

Kommt das überraschend?

Kommt das alles überraschend? Lange bevor Herr K. wieder auffällig wurde, hat sich seine Frau, eine pensionierte Volksschullehrerin, in der rechten Szene einen Namen gemacht. Auch sie war einmal FPÖ-Chefin in Amstetten, saß jahrelang im Gemeinde- und Stadtrat.

Wie ihr Mann wurde auch sie aus der Partei ausgeschlossen, gleich zwei Mal. Das erste Mal war Mitte der 1990er-Jahre, damals verteilte sie Flugblätter, auf denen sie behauptete, dass nicht Deutschland, sondern England den Zweiten Weltkrieg begonnen hätte. (Das wiederholte sie in einem Posting noch im Jänner 2020.)

DER STANDARD

So richtig über das Mostviertel hinaus bekannt wurde Frau K. 2012, als sie gegen Frauenhäuser wetterte, die seien ihrer Meinung nach schuld an gescheiterten Ehen. Im Jahr davor geißelte sie den "Gender-Wahnsinn": Gender-Mainstreaming, schrieb sie am 10. Jänner 2010 auf der Homepage des damaligen Dritten Nationalratspräsidenten Martin Graf (FPÖ), würde die Absicht verfolgen, "die Geburtenrate der europäischen, insbesondere aber der deutschen Bevölkerung zu senken. Durch Zerstörung der gesunden Familien und Förderung von Homosexualität will man dieses Ziel erreichen. Es ist also nichts anderes als die Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs mit effektiveren Waffen." Notabene: Nicht die Deutschen führten den Zweiten Weltkrieg, sondern dieser wurde gegen Deutschland geführt!

Rechter als die FPÖ

Es gibt noch genug andere Äußerungen von ihr, die könnte man außer verhaltensauffällig als menschenverachtend und antisemitisch bezeichnen, etwa als sie sich in die Diskussion um die Erhaltung jüdischer Friedhöfe einmischte, zu der sich die Republik Österreich 2001 im Washingtoner Abkommen verpflichtet hat. Dass damals auch Abgeordnete der FPÖ mitgestimmt hatten, erboste sie noch zehn Jahre später. "Und die Juden", fragte sie am 20. November 2010, "kümmern sich nicht einmal um die Gräber ihrer eigenen Ahnen? Keine Pietät – nur Gier!"

Solche und ähnliche Sachen postet Frau K. auf Seiten wie unzensuriert.at oder auf dem Blog des ehemaligen Presse- und Wiener Zeitung-Chefredakteurs Andreas Unterberger. Zuletzt aber nur noch als Privatperson, seit sie 2019 neuerlich aus der Partei ausgeschlossen wurde – Verfehlungen im Umgang mit Parteigeldern wurden ihr vorgeworfen.

Dass der Verfassungsschutz Wochen zuvor eine Mitgliedschaft bei den Identitären aufgedeckt bzw. ihren Namen auf einer Spendenliste gefunden hatte, war für die FPÖ Niederösterreich aber kein Grund, sich von ihr loszusagen. Es ist ja nicht verboten, rechter als die FPÖ sein zu wollen. Seither fordert Frau K. vehement, man möge endlich eine AfÖ gründen, also eine österreichische AfD.

Erwartbare Position

Dass sie auch in der Corona-Frage die erwartbare Position einnimmt, versteht sich von selbst. Die Corona-Maßnahmen hält sie ebenso wie ihr Mann für ungerecht und unnötig, schließlich liege "das Sterbealter der Corona-Patienten", postete sie am 17. Februar 2021, "über der durchschnittlichen Lebenserwartung". Da sei ihr schon wichtiger, "für unsere und unserer Kinder Freiheit" auf die Straße zu gehen.

In einer mehr als einstündigen Dokumentation über die Corona-Szene sieht man Frau K. auf einer Demo in Wien im April 2021. Dabei hält sie wie ihr Mann ein Schild hoch, auf dem die beiden Jahreszahlen 2021 und 1933 nebeneinanderstehen. Soll uns das glauben machen, wir würden uns wieder im Jahr 1933 befinden? Im Jänner 1933 wurde Hitler in Deutschland Reichskanzler, kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Seit wann, dachte ich, positioniert sich Frau K. gegen die Nazis, wo sie doch Nazideutschland von der Kriegsschuld freispricht? Stehen da aufrechte Antifaschisten vor uns, die uns sagen wollen: Wehret den Anfängen?

Dann wurde mir allerdings klar, dass mit 1933 vermutlich etwas ganz anderes gemeint ist – nicht die NS-Diktatur, sondern der Ständestaat, den ja auch die FPÖ so gern zitiert: Am 19. Juni 1933 wurde nämlich die NSDAP in Österreich verboten, nachdem es vermehrt zu Terroranschlägen gekommen war, die erstmals auch ein Todesopfer gefordert hatten (bis 1938 waren es dann ungefähr 800, die dem Naziterror in Österreich zum Opfer fielen).

Aus Sicht der Nazis, die sich ihrerseits als Opfer einer Diktatur sahen, war das Widerstand gegen das "System", und ihre Phrasen damals unterscheiden sich kaum von denen heute. "Auf dem Weg zur Knechtschaft", steht auf dem Schild, das Frau K. in die Kamera hält. "Maske ? Maulkorb ? Zensur ? Diktatur."

Aber welche Diktatur? (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 6.2.2022)