"Wir sind von niemandem das Sprachrohr": Christian Sievers über Vorwürfe der Regierungsnähe von Medien.

Foto: ZDF / Jana Kay

Mit Jahresbeginn hat er den Job von einer News-Legende übernommen: Christian Sievers (52) präsentiert das "Heute Journal" des ZDF nach Claus Kleber, der das Tagesmagazin des öffentlich-rechtlichen deutschen Senders fast 20 Jahre moderiert und geprägt hatte.

Österreichs Politik wie aus einem schlechten Roman

Österreichs Politik erscheint "Newsjunkie" Sievers aus der Ferne, "stellenweise wie aus einem schlechten Roman". Erst nach dem Interview wurden die Sideletter der ÖVP-FPÖ-Regierung von 2017 publik – jener bezüglich der Besetzung von ORF-Führungspositionen wie Channel-Managern, Chefredakteuren und Direktoren und jener von ÖVP und Grünen von 2020 bezüglich der Besetzung des ORF-Stiftungsrats. Auf Nachfrage wollte Sievers diese Besetzungslisten über den laut Verfassungsgesetz unabhängigen ORF nicht kommentieren.

Über Österreichs Politik sagte er: "Mir scheint es manchmal so, aber das ist nur meine Beobachtung aus der Ferne, dass sich die Handelnden in Österreichs Politik vielleicht ein bisschen zu gut kennen. Dass ein zu kleiner Kreis auch auf der zweiten und dritten Ebene immer wieder mit sich selbst zu tun hat. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum das passiert, worüber wir dann berichten müssen."

"Wir sind von niemandem das Sprachrohr"

STANDARD: Wie fällt die erste Bilanz als Nachfolger von Claus Kleber beim "Heute Journal" aus?

Sievers: Ich bin nicht der Typ, der immer gleich Bilanz zieht. Aber es war eine spannende erste Woche, in der viel passiert ist. Mittwochs hatte ich dann den Eindruck: Das waren doch schon zwei Wochen! Und ich war deutlich aufgeregter, als ich vorher gedacht hatte. Wir hatten viele Zuseher, was mich freut, insofern würde ich sagen, es war okay. Ordentliche Bilanzen sind schwer in der täglichen Nachrichtenarbeit. Sie hört nie auf und fängt nie an – man ist immer mittendrin.

STANDARD: Ist es Ihnen lieber, wenn es drunter und drüber geht und viel los ist?

Sievers: Mir ist es lieber, wenn viel los ist. Ich bin das, was man wohl "Newsjunkie" nennt, das war ich immer schon, und das werde ich immer bleiben. Wenn kurz vor der Sendung noch etwas reinkommt, was einen zwingt, neu zu denken – das ist eine Herausforderung, und es tut dem Programm gut. Der Abend läuft bei uns fast nie so, wie er am Morgen mal geplant wurde. Das wird den Tag über noch vier- oder fünfmal umgeworfen.

STANDARD: Zuseherinnen und Zuseher sind ja Gewohnheitstiere. Gab es bis jetzt Anfeindungen?

Sievers: Speziell in Bezug auf den Moderatoren-Wechsel habe ich die nicht erlebt. Aber Anfeindungen bekommen wir jeden Tag. Sie sind schon seit längerem Teil des Berufs – leider.

STANDARD: In welcher Form kommen sie bei Ihnen daher?

Sievers: Die Faustregel ist: je unpersönlicher, desto krasser. Wenn einen jemand auf der Straße anspricht, ist das in 99,9 Prozent der Fälle supernett und sehr freundlich. Auch da gibt es Kritik und konkrete Anmerkungen, aber immer sehr konstruktiv. Am Ende wird das dann oft ein nettes Gespräch, das mich weiterbringt. Je unpersönlicher der Kontakt allerdings ist – und da sind die sozialen Netzwerke ganz weit vorne, weil sich alle prima hinter Fake-Namen verstecken können –, desto schwieriger wird das Ganze. Da gibt es dann auch Kommentare, die alles Akzeptable überschreiten und in wüsten Drohungen enden.

STANDARD: Bringen Sie das zur Anzeige?

Sievers: Das hängt davon ab, was konkret drinsteht und ob das justiziabel ist, oder jemand in Anführungsstrichen nur unflätig, ausfallend wird. Da habe ich für mich entschieden, nicht zu reagieren. Der Account wird dann geblockt, und das war es. Eine Kollegin hat mir vor Jahren mal geraten: Du musst mit Social Media umgehen wie mit dem richtigen Leben. Wenn in einer Gaststätte jemand an deinen Tisch kommt und das Gespräch beginnt mit zwei wüsten Beleidigungen, würdest du dann den restlichen Abend mit diesem Menschen verbringen wollen? Warum sollte man sich auf Social Media anders verhalten? Das leitet mich.

STANDARD: Auch auf Twitter, wo Sie recht aktiv sind?

Sievers: Ich glaube sogar, dass so etwas wie persönliche Connection auch via Social Media funktionieren kann – wenn das Leute sind, die einem schon lange folgen, oder wenn ich denen schon lange folge. Man hat das lustige Gefühl, dass man sich irgendwie kennt. Und je stärker das ist, desto ziviler geht es zu. Instagram ist nochmal anders, weil es viel stärker visuell funktioniert. Richtig genutzt, haben soziale Netzwerke, gerade Twitter, also auch viele Vorteile. Ich verteufele das nicht, sondern bin gerne auf Twitter. Ich lese dort viel, was mich in der täglichen Arbeit weiterbringt. Es ist die Möglichkeit in Geschichten einzutauchen, Menschen kennenzulernen, Situationen mitzuerleben. Der Wert von Twitter gerade für Journalistinnen und Journalisten und die journalistische Recherche ist enorm.

STANDARD: Ein unverzichtbares Werkzeug Ihrer Arbeit?

Sievers: Absolut. Und das gilt auch, und hier ganz besonders, für Reporterinnen und Reporter vor Ort. Ich habe das selbst in Krisen- und Kriegsgebieten erlebt, wo man über Twitter sehr schnell vernetzt ist und erfährt, was an der nächsten Straßenecke passiert. Das ist eine Unmittelbarkeit, die sonst kein anderes Medium liefert. Da kommen Sie mit keiner herkömmlichen Nachrichtenagentur weiter. Twitter funktioniert hier wie eine Mikronachrichtenbörse, die ganz gezielt und im jeweiligen geografischen Umfeld Informationen liefert.

STANDARD: Haben sich Ihrer Wahrnehmung nach die Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten in den letzten Monaten verschärft? Je länger die Pandemie dauert, desto massiver werden die Attacken?

Sievers: Solche Attacken kommen bei vielen Themen. Ich war fünf Jahre Nahostkorrespondent. Vielleicht bin ich auch deshalb so ein bisschen abgebrüht, weil es das beim Thema Naher Osten schon länger gibt. Dass die Berichterstattung der einen Seite nicht gefällt oder eben der anderen. Und beide dabei interessanterweise häufig denselben Bericht meinen. Da gab es dann heftigste Auseinandersetzungen auf Social Media. Danach habe ich das bei der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 erlebt, als auch plötzlich Journalisten ins Visier genommen wurden. Und jetzt in der Pandemie. Ich führe da keine Statistik, ob es stärker oder schwächer wird. Ich fürchte, das wird weitergehen, man sucht sich halt neue Kanäle, Wege und Themen.

STANDARD: Viele Corona-Verharmloserinnen und Maßnahmenkritiker werfen den öffentlich-rechtlichen Sendern vor, das Sprachrohr der Regierung zu sein.

Sievers: Das Wort "Sprachrohr" kann ich nicht besonders leiden, darin liegt ja im Grunde bereits eine Beleidigung für jeden, der seine journalistische Arbeit ernst nimmt. Es passt auch überhaupt nicht zu dem, was wir tun. Wir sind von niemandem das Sprachrohr, aber natürlich berichten wir darüber, was Menschen tun und sagen. Und natürlich ist es gerade in einer Pandemie auch entscheidend und deshalb von großem Interesse, was die Regierung tut. Unsere Aufgabe ist, das abzubilden, es zu hinterfragen, die Gegenpositionen darzustellen und die Handelnden damit jeweils zu konfrontieren. Das tun wir. Jeden Abend neu. Und wenn mir – wie neulich – jemand schreibt, "ich dachte am Anfang der Woche, Sie sind ein Linker, aber jetzt glaube ich, Sie sind eher rechts", dann habe ich meinen Job gemacht.

STANDARD: Sind die Leute, die Ihnen "Lügenpresse" entgegenbrüllen, schon verloren für das ZDF, oder kann es gelingen, die wieder ins Boot zu holen?

Sievers: Zunächst mal: Zu sagen, die lügen alle, ist ja der schlimmste Vorwurf, den sie einem Journalisten machen können. Das ist so wie einem Bäcker zu sagen, er kann nicht mit Mehl umgehen. Das entzieht unserer Arbeit die Grundlage. Wenn mir jemand sagt: Du lügst doch, dann trifft mich das. Redet man aber mit diesen Menschen mal intensiver, stelle ich fest, dass auf konkrete Nachfragen, woher sie diesen pauschalen Vorwurf nehmen, erstaunlich wenig konkrete Antworten kommen. Häufig haben sie unsere Sendungen nicht einmal gesehen. Es handelt sich eher um ein Gefühl, das sich bei den Menschen breitgemacht hat, und weniger um faktenbasierte Analyse.

Sievers bei der Arbeit.
Foto: ZDF / Jana Kay

STANDARD: Sender wie das ZDF haben eine integrative Funktion, stoßen aber auch an Grenzen, wenn Leute einfach unerreichbar sind.

Sievers: Wir wollen jede und jeden erreichen. Das ist unser Auftrag und unsere Verantwortung. Ich kann mir aber nicht jeden Morgen immer zuallererst überlegen, womit ich wen wie erreiche. Meine Aufgabe als Journalist ist im Grunde ganz einfach: diese Welt so abzubilden, wie sie ist. Das ist die Messlatte. Welche Schlüsse die Menschen dann daraus ziehen, das bleibt ihnen selbst überlassen.

STANDARD: Was sagen Sie zu Österreichs Politik?

Sievers: Ich gebe zu: Österreichs Politik in ihren kleinsten Winkelzügen beschäftigt mich nicht jeden Tag, aber der Blick, den wir gerade aktuell häufig Richtung Süden werfen, ist immer sehr spannend. Österreich ist ein begeisterndes Land, ich bin auch sehr verliebt in Wien. Das ist eine fantastische Stadt, die etwas geschafft hat, was wenigen Städten weltweit gelungen ist: in Sachen Lebensqualität ganz weit vorne zu sein, ohne zu einem klinisch rein sanierten Puppenhäuschen zu werden. Wien lebt, es hat Ecken und Kanten. Wien drückt manchmal auch ein Auge zu und genießt den Moment. Das ist eine traumhafte Kombination, für die ich große Sympathien habe.

STANDARD: Und für die Politik?

Sievers: Stellenweise wirkt es wie aus einem schlechten Roman, was da alles passiert. Mir scheint es manchmal so, aber das ist nur meine Beobachtung aus der Ferne, dass sich die Handelnden in Österreichs Politik vielleicht ein bisschen zu gut kennen. Dass ein zu kleiner Kreis auch auf der zweiten und dritten Ebene immer wieder mit sich selbst zu tun hat. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum das passiert, worüber wir dann berichten müssen.

STANDARD: Wie halten Sie es mit geschlechtsneutraler Sprache im ZDF?

Sievers: Ich habe nicht angefangen zu gendern, aber ich nehme mir die Zeit für "Politikerinnen und Politiker" oder "Ärztinnen und Ärzte". Wenn das mal nicht möglich sein sollte, hilft auch ein bisschen gegen den Strich zu bürsten, also etwa von Lokführerinnen zu sprechen und Zahnarzthelfern. Am Ende ist auch das Teil unserer Aufgabe: Die Gesellschaft so abzubilden, wie sie ist. Auch sprachlich.

STANDARD: Aber übergeordnete Leitlinien für alle Redakteurinnen und Redakteure gibt es nicht?

Sievers: Nein, die haben wir nicht, es bleibt jeder und jedem selbst überlassen. Ich halte das für eine angenehme Grundhaltung des Senders, denn so funktioniert Sprache auch. Ich schreibe auch meine Moderationen so, wie ich reden würde. Ich bin abends im Fernsehen kein anderer Mensch als jetzt. Würde ich mich verstellen, wäre das sofort zu merken und im Zweifel schnell peinlich. Ich bin kein Schauspieler, und ich finde es sehr gut, dass das auch niemand von mir verlangt.

STANDARD: Sie haben viele Jahre beim ZDF-"Morgenmagazin" gearbeitet, jetzt hat sich die Arbeit mehr in die Nacht verlagert. Was liegt Ihnen mehr?

Sievers: Ganz klar der Abend. Ich bin passionierter Langschläfer und liebe die Nacht. Wenn es dunkel wird, geht es bei mir los. Und trotzdem habe ich sehr gerne und sehr lange beim "Morgenmagazin" gearbeitet, auch wenn das für meinen Biorhythmus eine Katastrophe war. Das Schöne ist, wenn man zu unmöglichen Uhrzeiten arbeiten muss, gibt es meist fantastisches Teamwork. Das hilft enorm. Niemand will mitten in der Nacht aufstehen und dann nur Knatsch und Streit haben. Und so ähnlich ist es jetzt bei uns auch: Wenn der Tag vorbei ist und im Sendezentrum die Lichter angehen, dann drehen wir auf. (Oliver Mark, 5.2.2022)