Von unten sieht man, dass am Hubschrauber außen vorn eine Kamera montiert ist, die auf das Innere des Towers hält.

Foto: Christian Fischer

Wenn wir Glück haben, kommt der Hubschrauber. Wenn wir mehr Glück als Verstand haben, kommt Tyler Rake. So war die Hoffnung, das war der Plan.

Bis 18. Februar ist Wien Schauplatz der internationalen Filmwelt. Netflix dreht auf der Donauplatte die Fortsetzung von Tyler Rake: Extraction. Es ist der erfolgreichste Actionreißer im Angebot der Streamingplattform, der australische Feschak Chris Hemsworth gibt einen heldenhaften Söldner. Ein Haucherl Hollywood in Wien – ein Skript in elf Szenen.

Fade-in/Aufblende

(1) AUSSEN – DONAUPLATTE WIEN, DC TOWER

Ein Hubschrauber kreist über der Donaustadt. Mit knatternden Rotorblättern umrundet der silberne Helikopter den DC Tower in schnellem Schwung und fliegt dann direkt auf das Gebäude zu. Was ist jetzt los? 9/11 auf Wienerisch? Oder der sehr realistisch inszenierte Höhepunkt einer irren Actionszene? Weder noch. Wenige Meter vor der Glasfront des 220 Meter hohen Turms kommt das Fluggerät abrupt zum Stehen und schwebt in der Luft. Von unten sieht man, dass am Hubschrauber außen vorn eine Kamera montiert ist, die auf das Innere des Towers hält.

"Sorry, hier dürfen Sie jetzt nicht durch", sagt der junge Mann auf dem Platz vor dem DC Tower. Seine schwarz-weiße Warnweste ist das Erkennungsmerkmal der sogenannten Blocker, Crewmitglieder, die hier an jeder Ecke stehen, einzeln, zu zweit oder gruppenweise, und dafür sorgen, dass Passanten die Dreharbeiten nicht stören.

Solange der Heli über der Donauplatte schwebt, ist kein Durchkommen.
Foto: Christian Fischer

Der Sturm hat nachgelassen, Regen folgt auf Sonnenschein, ein wechselhafter Tag steht der Donaustadt bevor. In der Donaucity herrscht reges Treiben heute Morgen. Viele sind auf dem Weg zur Arbeit, nebenan brummt der Frühverkehr, gegenüber im Austria Center gehen Menschen impfen oder testen. Im Ausbildungszentrum der nahegelegenen Rettungsstation dämpfen Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer ihre Zigaretten aus und begeben sich ins Innere des Gebäudes.

Wer über den Platz will, muss jetzt warten. Solange der Heli über der Donauplatte schwebt, ist kein Durchkommen. Zehn bis 20 Minuten dauern diese Sperren, jeweils zwischen sieben und 18 Uhr. "Die meisten haben Verständnis, es gibt aber auch welche, die echt ungut sind", erzählt eine weitere Blockerin im Foyer des DC Towers. Wer Pech hat und sich gerade dort befindet, muss großräumig ausweichen. Der Umweg führt unter die Platte und kostet gut fünf Minuten. Zur Besänftigung bekommt man Manner-Schnitten.

Egal. Der Hubschrauber war da, danke. Und jetzt gern Tyler Rake, bitte.

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(2) INNEN – NETFLIX-BÜRO LOS GATOS

Bei der Serienproduktion überlässt Netflix nichts dem Zufall. Die Geburt des Films Tyler Rake: Extraction im Jahr 2020 ist der Tatsache geschuldet, dass dem Streaminganbieter im Serienportfolio noch die Marke "Superheld" fehlte und man Mitbewerbern wie Disneys Marvel nicht das Feld überlassen wollte. Also ging man fix ans Werk und zimmerte eine gefällige überlebensgroße Lichtgestalt.

Entstanden ist ein Held für alle Lebenslagen – hart, wenn es die Situation verlangt, weich, wenn es der Moment erlaubt. Mit dem Australier Chris Hemsworth wurde zudem ein Hauptdarsteller gefunden, der als "Thor" bereits hohen Bekanntheitsgrad erworben hat und beim Publikum erfolgserprobt ist – besonders beim weiblichen.

Ein Mann, ein Gewehr – was braucht man mehr? Chris Hemsworth ist der Star von "Tyler Rake" bei Netflix.
Foto: Jasin Boland / NETFLIX

Ein Frauenheld ist Tyler Rake allerdings nicht. Dafür ist seine Mission zu wichtig. Dieses Muskelpaket kämpft als Söldner für die gute Sache. Sein Auftrag lautet "Extraction", und den führt er mit aller Gewalt aus. Von seiner Organisation mit nicht enden wollendem Waffenarsenal ausgestattet, hantiert er mit schwerem Gerät, scheut sich auch nicht, selbst Hand anzulegen. Gefangene werden kaum gemacht. Leichen pflastern seine Wege.

Angesichts von mehr als 650 Massenerschießungen, also Tötungsvorfälle mit Schusswaffen und vier oder mehr Opfern, allein 2021 in den USA wäre ein sich den Weg freischießender Superheld theoretisch hinterfragenswert, aber nachdem es vordergründig sehr um die gerechte Sache geht, will man offenbar nicht kleinlich sein. Obendrein handelt es sich bei Chris Hemsworth um den "Sexiest Man Alive". Schlachten und schmachten.

Ergebnis: Tyler Rake: Extraction wurde laut Netflix mehr als 90 Millionen Mal aufgerufen und soll der Anfang eines filmischen Gegenuniversums sein. Die Produktionsfirma AGBO von den Avengers: Endgame-Machern Anthony und Joe Russo plant Fortsetzungen. Im ersten Film ging es in Bangladesch um die Extraktion eines kleinen Buben aus den Fängen brutaler Drogenbosse. Extraction 2 spielt in Europa, Details sind nicht bekannt. Wer bei Netflix fragt, wird vertröstet – nach dem Dreh gern, aber bitte nicht jetzt. Man wolle keine Schaulustigen.

Journalisten sollen sich in umliegende Gebäude eingeschleust haben, um exklusive Bilder vom Geschehen einzufangen. Vom ORF schaut täglich jemand vorbei.

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(3) AUSSEN – WIEDER AUF DER PLATTE

Außer dem Hubschrauber und den Absperrungen deutet fürs Erste nicht wirklich viel darauf hin, dass hier die große, weite Filmwelt Station macht. Einige Souvenirstände stehen da, offenbar Kulisse. Das ist aber auch schon alles. Richtung Donauinsel steht der Hubschrauber, daneben zwei Wohnwagen, wo sich für gewöhnlich Schauspieler in Drehpausen aufhalten. Befindet sich in einem von ihnen Tyler Rake?

"In zehn Minuten wird wieder abgesperrt", knattert es aus einem Funkgerät. Der nächste Heli-Start steht bevor. Ein gutes Dutzend Feuerwehrleute überquert den Platz. Kurze Zeit später kreist wieder der Helikopter um den DC Tower. Die Sonne scheint.

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(4) INNEN – BÜRO VIENNA FILM COMMISSION

"Ich habe nichts unterschreiben müssen. Ich darf reden", sagt Marijana Stoisits von der Vienna Film Commission fröhlich. Sie freut sich. Neben Heli-Filming sind Verfolgungsjagden, Schießereien, Explosionen, Autocrashs angesagt. Kamerakräne und -erweiterungen wie ein Russian Arm kommen nicht alle Tage zum Einsatz, und schon gar nicht in Transdanubien.

Fünf Millionen Euro gibt Netflix für die Drehtage allein in Wien aus. Die Vorbereitungen laufen seit mehr als einem halben Jahr. Derzeit sind rund 700 internationale Filmleute in Wien, mehr als 300 Jobs bringt der Auftrag für Österreich. Neben Hemsworth wird auch die iranischstämmige Hauptdarstellerin Golshifteh Farahani nach Wien kommen. Hundert Teamfahrzeuge sind im Einsatz – und die brauchen auch Parkplätze.

Netflix Deutschland, Österreich und Schweiz

Eine Produktion dieser Größenordnung ist ein logistischer Kraftakt, angefangen von der Einholung von Drehgenehmigungen über Absprachen mit der Feuerwehr – die auch selbst mitwirkt – und Magistratsabteilungen bis hin zu Hotelbuchungen und Catering. Vom Setdesign gar nicht zu reden. Was Stoisits besonders freut: Wien wird auch Wien spielen.

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(5) INNEN – LANDESPOLIZEIDIREKTION, FACHABTEILUNG PYROTECHNIK

Kein Actionfilm ohne Explosionen, Ballereien und dichte Rauchwolken. Damit das Spektakel ordnungsgemäß seinen Weg auf die große Leinwand findet, müssen einige bürokratische Hürden genommen werden. Dazu gehört etwa, dass sich die Filmproduktion bei der Behörde Zustimmung für den Einsatz der Pyrotechnik holt.

Bei der Wiener Polizei ist dafür Christoph Mayrhuber zuständig, der seinen Job seit 2007 hat und deshalb schon bei Mission: Impossible 5 im Jahr 2014 dabei war – eine "ähnlich große Produktion wie Tyler Rake", sagt er, nur dass sich auf der Donauplatte nun alles auf Privatgrund abspielt.

Stars im Wohnwagen: Sitzt Chris Hemsworth da drin?
Foto: Doris Priesching

Mayrhuber lässt sich von Netflix und Co nicht aus der Ruhe bringen: "Egal ob Kleinfeuerwerk, Bühnentechnik oder pyrotechnische Effekte im Stadion, meine Aufgabe bleibt gleich." Er prüft, wie viel Nettoexplosivstoffmenge pyrotechnischer Art verwendet wird. Daraus lässt sich dann abschätzen, wie laut das Getöse wird und "ob die Sicherheit der Unbeteiligten gewährleistet bleibt". Besondere Rücksicht wird dabei auf Religionsgemeinschaften gelegt, natürlich auch auf Krankenhäuser und Altersheime.

Anders als man vielleicht vermuten würde, nimmt die Pyrotechnik bei den Actionszenen nicht den größten Raum ein. "Sie wird hauptsächlich zum Zünden verwendet", erklärt Mayrhuber, "oder um den entsprechenden Druckaufbau zu erzeugen, mit dem man dann ein Gasgemisch auf größtmögliche Weise zerstäubt" – was erst die Simulation einer Explosion bewirkt. Und diese sei dann sogar verhältnismäßig leise: Die Lautstärke, also der akustische Knalleffekt im Kino, kommt in der Regel erst in der Postproduktion zustande.

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(6) AUSSEN – ZURÜCK AUF DER PLATTE

"Wir haben noch nichts gesehen", sagt die Verkäuferin in der Bäckerei am Platz vor dem Tower. Der Laden ist neben einer Kinderarztordination rundum fast der einzige, der offen hat. 120 Euro pro Kind und Tag wurden geboten, damit Eltern ihre Kinder vom Kindergarten daheim lassen. "Fast alle haben das angenommen", sagt eine Mutter. Von Tyler Rake fehlt jede Spur.

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(7) INNEN – AUSGANG DC TOWER RICHTUNG U1

"Ich glaube, er ist noch gar nicht da", rätselt die nächste Blockerin. Den Job hat sie, weil sie bei einer so großen Produktion dabei sein wollte – und weil sie Chris Hemsworth sehen will: "Ich hoffe, dass ich ein Foto mit ihm machen kann." Wenn er nur endlich käme.

Es schüttet jetzt. "Ein bissi fad ist es schon", sagt eine junge Frau an der Absperrung. Film kann anstrengend sein, internationales Filmbusiness hin oder her.

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(8) INNEN – BÜRO VIENNA FILM COMMISSION

Wien ist ein beliebter Filmstandort. Mehr als 570 Filmprojekte wurden 2020 genehmigt, Corona-bedingt ein Rückgang von 16,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Internationale Projekte in der Größenordnung von Tyler Rake sind aber rar.

"Es könnte mehr sein", fasst Stoisits zusammen. Warum das nicht so ist, hängt mit einem rückständigen Fördersystem zusammen. Derzeit gibt es vom Bund ein Cash-Rebate-Modell des Filmstandorts Austria (Fisa). Dabei werden 30 Prozent der im Land getätigten Ausgaben rückerstattet – allerdings nur für Filme und nicht für Serien oder Streaming. "Total veraltet", sagt Stoisits. "Internationale Produktionen machen um Österreich einen Bogen." Die Politik habe bei einer Entwicklung, die sich klar abgezeichnet hat, nichts unternommen, pflichtet Arie Bohrer bei.

Der Film-Commissioner bei der Location Austria beklagt den daraus resultierenden Wettbewerbsnachteil gegenüber Ländern wie Tschechien, Italien oder Rumänien. Das Hauptproblem sei, dass Investitionsprämien fehlten und die Fisa-Mittel so begrenzt seien, dass man nur eine Großproduktion pro Jahr durchziehen könne. "Wir haben auch keine Studios – immerhin gibt es dafür jetzt eine Initiative am Hafen Wien. Es ginge darum, eine eigene Industrie auf die Beine zu stellen – damit könnten viele Arbeitsplätze geschaffen werden."

Ein Reformentwurf liegt im Finanzministerium. Durch den Regierungscrash verzögert sich die Umsetzung. Stoisits hofft, dass sich unter dem neuen Finanzminister Magnus Brunner "endlich etwas tut".

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(9) AUSSEN – WIEDER AUF DER PLATTE

Der Hubschrauber ist fort. Leichter Regen setzt ein. Eine Mutter drängt ihr Kind zum Weitergehen: "Na, möchtest du auch einmal Schauspieler werden?" Kind: schweigt.

(10) SCHLUSS

Und Tyler Rake? An diesem Tag woanders. Chris Hemsworth? Nie gesehen. Der Hubschrauber war da. So ist das Leben.

Fade-out

(Doris Priesching, Dominik Kamalzadeh, 5.2.2022)