Zu wenig Personal, rationiertes Essen und unhygienische Zustände – die Vorwürfe gegen den Altenheimbetreiber Orpea wiegen schwer.

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Paris – Es gilt als das beste Altersheim im Großraum von Paris. Entsprechend motiviert war die junge Angestellte, als sie in dem Betrieb des renommierten Orpea-Konzerns im Nobelvorort Neuilly-sur-Seine zu arbeiten begann. Doch schon an ihrem ersten Tag staunte Saïda: Es roch schon im Flur nicht sehr vornehm, sondern nach Urin.

In seinem Buch Die Totengräber(Les Fossoyeurs) schildert der Journalist Victor Castanet Dutzende anderer Vorkommnisse in den Orpea-Heimen. Einem alten Mann – der im Monat immerhin 8000 Euro für seine Beherbergung zahlt – wurde beim Frühstück die Zahl seiner Kekse abgezählt. Bei anderen Insassen, die Monatstarife von bis zu 6000 Euro zahlen, ließ der Service ebenfalls zu wünschen übrig – vorsichtig ausgedrückt.

Zu wenig Personal

"Einzelne Patienten bleiben den ganzen Tag im Bett liegen, weil nicht genug Personal da ist", erklärte eine Krankenschwester namens Nora diese Woche im Radio. "Andere bekommen aus dem gleichen Grund nicht immer ihr Mittagessen."

Castanet sprach nach eigenen Angaben mit 250 Betroffenen in Orpea-Heimen in ganz Frankreich. Und er kam überall zum gleichen Befund: Frankreichs zweitgrößte Altersheimkette hinter dem Branchenleader Korian spart an allen Ecken und Enden: beim Personal und dem Essen, bei den Pflegeprodukten und offenbar sogar den Medikamenten. Seniorenwindeln wurden ortsweise auf drei pro Tag rationiert, selbst wenn die alterskranke Person Durchfall hat. Denn, so behauptet Castanet: Oberstes Ziel ist in den französische Orpea-Heimen nicht die Pflege, sondern der Profit.

Als die Direktion von Castanets Buchprojekt hörte, versuchte sie laut dem Autor, ihn mit einem Geldangebot von 15 Millionen Euro davon abzubringen, dies zu veröffentlichen. Castanet publizierte Die Totengräber trotzdem bei dem großen Pariser Verlag Fayard.

Orpea unterstellte ihm zuerst öffentlich "lügnerische Darstellungen". Dann wurde bekannt, dass der Vorsteher des Konzerns, Yves Le Masne, kurz vor Erscheinen des Buches Unternehmensaktien abgestoßen hatte, wohl wissend, dass der Orpea-Titel nach den Enthüllungen an Wert verlieren würde. In der Tat brach er gleich um die Hälfte ein.

Neue Strategie

Jetzt ändert Orpea seine Verteidigungsstrategie. Le Masne ist diese Woche entlassen worden. Das 1989 von einem Neuropsychiater gegründete Unternehmen mit 1100 Einrichtungen und 70.000 Angestellten beauftragt zwei unabhängige Expertenbüros mit Untersuchungsberichten. Grant Thornton und Alvarez & Marsal sollen die Vorfälle und erhobenen Vorwürfe nun untersuchen.

Nicht verhindern kann Orpea, dass zahlreiche Familien eine Gruppenklage wegen unterlassener Hilfeleistung und sogar fahrlässiger Tötung vorbereiten. Denn der Entrüstungssturm über die Zustände in den Einrichtungen dauert in der französischen Öffentlichkeit an.

Viele Franzosen fragen sich, wie es wohl in anderen Altersheimen zugehe, wenn sogar die besten Etablissements bis zum Exzess sparen, ja rationieren. Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron gibt sich "empört". Die zuständige Ministerin Brigitte Bourguignon zitierte die Orpea-Verantwortlichen diese Woche zu sich und kündigte Untersuchungen an. Das regionale Gesundheitsamt stattete der Residenz in Neuilly-sur-Seine bereits einen Besuch ab.

Warum erst jetzt?, fragen viele Betroffene. Die Frage ist vor den Präsidentschaftswahlen im April politisch brisant. Macron hatte bei seiner Wahl 2017 ein Gesetz für das "hohe Alter" versprochen. Umgesetzt ist es bis heute nicht, obwohl in der französischen Altersbetreuung viele Missstände bekannt sind. Am Höhepunkt der Corona-Krise im Jahr 2020 war schon Marktleader Korian wegen diverser Todesfälle beschuldigt worden; die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Private Anbieter im Visier

Ins Visier geraten sind nun vor allem jene 20 Prozent der Altersheime, die in Frankreich in privater Hand sind und gemessen an ihren Tarifen höheren Ansprüchen genügen sollen. Sie dürfen – anders als die 50 Prozent staatlichen und 30 Prozent gemeinnützigen Pflegestätten – Gewinn machen; dafür stehen sie unter behördlicher Aufsicht. Doch offenbar finden die Kontrollen nur auf dem Papier statt.

In Österreich ist Orpea stark präsent, seit die französische Gruppe 2015 den Marktleader Sene-Cura übernommen hat. Die in Frankreich erhobenen Vorwürfe hätten jedoch "keinerlei Bezug zu Österreich", teilt eine Sene-Cura-Sprecherin auf Anfrage mit. Jede Ländergesellschaft der Gruppe arbeite völlig autonom, "zumal die Vorschriften und die Organisation der Altenpflege in jedem Land anders sind", heißt es.

Sene-Cura unterliege österreichischem Recht. Alle Heimbetreiber seien verpflichtet, die Vorgaben einzuhalten. Sene-Cura hält sich laut eigenen Angaben konsequent an die gesetzlichen Rahmenbedingungen und arbeitet eng mit Aufsichts- und Kontrollbehörden zusammen. (Stefan Brändle aus Paris, 5.2.2022)