Das Haus in Atmeh, in dem sich der IS-Führer versteckt hielt. Barisha, wo die USA 2019 seinen Vorgänger töteten, liegt nicht weit entfernt im Norden der syrischen Provinz Idlib.

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Die Geschichte des "Islamischen Staats" und von dessen Vorläufern zeigt, dass der plötzliche Wegfall der Anführer nicht zum Zusammenbruch der Terrororganisation führt: Ob der Tod des IS-Chefs Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurayshi (auch al-Qurashi ist richtig) ein "Meilenstein" ist, wie es aus dem Weißen Haus heißt, wird man sehen. Das Haus, in dem er sich in der nordwestsyrischen Provinz Idlib versteckt hielt, wurde am Donnerstag von einem US-Spezialkommando angegriffen.

Ganz sicher ist es ein schwerer taktischer und psychologischer Schlag gegen den IS, umso mehr, als die US-Operation kurz nach dem spektakulären IS-Angriff auf das Gefängnis al-Sinaa in al-Hassakeh in Nordostsyrien stattfand. Sie war keine "Reaktion" auf al-Hassakeh, denn die Planung hatte lange davor eingesetzt. Aber sie wirkt so.

Der Ablauf und Ausgang der Operation – beziehungsweise, was man davon weiß, bestimmt nicht alles – erinnert an jene vom Oktober 2019, bei der Abu Bakr al-Baghdadi, der erste selbsternannte "Kalif" des IS, sein Ende fand: Wie dieser soll sich auch sein Nachfolger selbst in die Luft gesprengt haben. Dabei riss er etliche Familienmitglieder, Frauen und Kinder, mit in den Tod. Die Rede war von 13 Toten. Der Ort, Atmeh nördlich von Idlib und an der türkisch-syrischen Grenze, liegt nahe an Barisha, wo sich al-Baghdadi versteckt hielt.

Komplexes Verhältnis

Al-Qurayshis Aufenthaltsort lag somit quasi auch unter den Augen der syrischen Terrororganisation HTS, der Hay’at al-Tahrir al-Sham (Komitee zur Befreiung der Levante). Kämpfer dieser Organisation sollen auf der Straße vor dem Haus al-Qurayshis getötet worden sein, was auf eine Zusammenarbeit mit dem IS schließen lassen würde.

Aber das Verhältnis zwischen IS und HTS ist sehr komplex. So wird nicht ausgeschlossen, dass die HTS zur Auffindung von al-Qurayshi beigetragen hat, vielleicht auch via Türkei, die in diesem Teil Syriens militärisch präsent ist und Rebellen unterstützt. Die Kurden arbeiten ohnehin mit den USA zusammen, und die irakische Regierung nannte sich als Informationsgeber für die USA gleich selbst.

Unsichtbarer "Geisterkalif"

Auch wenn der HTS auf lokaler Ebene die IS-Führer vielleicht geduldet hat: Eigentlich herrscht erbitterte Feindschaft zwischen den Gruppen, und HTS-"Sicherheitskräfte" – die Gruppe gibt sich in Idlib einen staatlichen Anspruch – greifen den IS immer wieder an.

Die Geschichte des HTS beziehungsweise seiner Vorgängerorganisation Nusra-Front ist eng mit der des IS verbunden. 2013 wurde die Gründung der syrischen Nusra-Front von al-Baghdadi kommissioniert, um im syrischen Krieg mitzumischen. Der IS und damit auch die Nusra gehörten al-Kaida an. Dann wollte der IS die Nusra schlucken, Al-Kaida widersprach, und der IS machte sich selbstständig. Später versuchte die Nusra-Front ihre Al-Kaida-Zugehörigkeit durch Umorganisation vergessen zu machen. International bleibt sie aber als Terrororganisation eingestuft – ein Punkt, in dem sich die USA und Russland einig sind. Aber HTS-Führer Mohammed al-Jowlani (der vom Golan) versucht immer wieder, politische Salonfähigkeit zu erlangen.

Al-Qurayshi, eigentlich Amir Mohammed Said Abdulrahman al-Mawla (45) und Iraker, galt als der unsichtbare "Geisterkalif", als Kalif ohne Kalifat, war doch der IS 2019 territorial besiegt worden. Bei seiner Übernahme nach dem Tod al-Baghdadis wurden Nebelgranaten rund um seine Identität gestreut, er sei ein Turkmene, dann doch wieder ein Araber. Wichtig war, dass sein Aliasname auf eine Herkunft aus dem Stamm des Propheten hindeutet. Als junger Mann genoss er eine religiöse Ausbildung und war auch unter al-Baghdadi für religiöse Fragen verantwortlich gewesen – und Mittäter beim Genozid an den Jesiden. Heute heißt es, er sei "nicht so charismatisch" wie al-Baghdadi gewesen: Das Gleiche hatte man über diesen im Vergleich mit Al-Kaida-Gründer Osama bin Laden gesagt. Über seine Haftzeit in Camp Bucca im Irak 2008 gibt es einen US-Bericht, der ihn als "Singvogel" bezeichnet.

"Neuer Grad an Reife"

Der US-Erfolg kommt in einer Zeit, in der ein aktueller Pentagon-Report dem IS in Syrien und im Irak einen neuen "Grad an Reife" bescheinigt. Die Angriffe sind zwar nicht unbedingt zahlreicher, aber viel komplexer und effizienter geworden. Der IS besteht derzeit aus verstreuten Zellen im Untergrund, die jedoch eine starke Koordinationsfähigkeit zeigen. So wurde etwa parallel zum Angriff in al-Hassakeh ein Armeeposten im irakischen Diyala angegriffen und elf Soldaten getötet. Der IS nützt im Irak auch wieder geschickt die Spannungen zwischen den Gruppen in religiös und ethnisch gemischten Gebieten: Nachdem er im Oktober Schiiten umgebracht hatte, griffen deren Angehörige ein sunnitisches Dorf an, wegen angeblicher IS-Kooperation.

Vor allem erschreckten jedoch die Ereignisse von al-Hassakeh: eine Operation von außerhalb und innerhalb des Gefängnisses – mit Revolte und Geiselnahme –, bei der auch die angrenzenden Viertel vom IS infiltriert wurden. Das braucht eine lange Planung, und funktioniert nur bei einer schwachen Geheimdienstarbeit auf der anderen Seite. Beteiligt waren mindestens 300 IS-Kämpfer aus dem Nordwesten und Nordosten Syriens, dem Assad-kontrollierten Territorium – wo die IS-Aktivitäten ebenfalls zunehmen –, dem Irak und offenbar auch aus anderen Ländern. Die kurdisch-geführten und von den USA ausgestatteten SDF (Syrischen Demokratischen Kräfte) konnten die Lage erst eine Woche später mit US-Hilfe aus der Luft unter Kontrolle bringen, tagelang wurde gekämpft. Noch immer sind die Angaben zur Zahl der getöteten, gefangenen und geflohenen IS-Kämpfer unterschiedlich. Dutzende Tote gab es auch auf SDF-Seite.

Im Gefängnis befanden sich auch Hunderte Jugendliche. Aber auch die Ereignisse von al-Hassakeh dürften nicht als internationaler Weckruf funktionieren, dass die Tausenden IS-Kämpfer und deren Familien in Camps und in Gefängnissen nicht nur die Gebiete, wo sie sich befinden, etwas angehen, sondern ein internationales Problem sind. (Gudrun Harrer, 5.2.2022)