Wladimir Putins Dauermanöver verursachen nur geringe Zusatzkosten im Vergleich zum Ertrag in Gestalt hoher Öl- und Gaspreise, sagt der Ökonom Stephan Schulmeister im Gastkommentar.

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Durch solche Pipelinerohre soll russisches Gas nach Europa fließen.
Foto: Reuters / Maxim Shemetov

Im Jänner 2022 stiegen die Verbraucherpreise in Österreich wie auch im Euroraum um 5,1 Prozent, so stark wie seit fast 40 Jahren nicht mehr. Im Euroraum ist der Preisauftrieb noch stärker. Allerdings: Inflation sollte man diesen Prozess nicht nennen. Denn darunter versteht man einen generellen Preisanstieg, der also die meisten Güter und Dienstleistungen erfasst. Davon kann derzeit nicht die Rede sein: Der Anstieg der Verbraucherpreise ist fast ausschließlich auf höhere Kosten von Treibstoffen, Strom und Heizung zurückzuführen, und dahinter steckt der dramatische Anstieg der Weltmarktpreise von Erdöl und Erdgas.

Ein Vergleich mit den Ölpreisschocks der 1970er-Jahre verdeutlicht den Unterschied: Diese hatten damals über eine Preis-Lohn-Spirale eine generelle Teuerungswelle verursacht, heute gibt es dafür keine Anzeichen, nicht zuletzt wegen der geschwächten Gewerkschaften.

In einer vielbeachteten Studie haben Ökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich kürzlich gezeigt, dass die gemeinsame Komponente des Preisauftriebs auch langfristig an Bedeutung verliert und Letzterer daher als Anstieg relativer Preise begriffen werden muss, aktuell der Preise fossiler Rohstoffe.

Idealer Nährboden

Seit 2020 sind die Preise von Erdöl auf mehr als das Vierfache gestiegen, jene von Erdgas und Kohle auf etwa das Dreifache. Wie konnte dies geschehen, wo sich doch die Weltwirtschaft wegen Covid-19 nur schwach entwickelte? Und auch das Angebot ist (zu) riesig: Die Weltreserven an Erdöl, Erdgas und Kohle sind 47, 53 beziehungsweise 147 Mal höher als der Jahresverbrauch. Es reichte, die Produktion 2021 geringfügig langsamer auszuweiten als die Nachfrage stieg, kombiniert mit einer Welle der Verunsicherung hinsichtlich der Energieversorgung.

Schon die Verdreifachung des Ölpreises 1973 und 1979 hatte gezeigt: Auf die Produktion von Knappheitserwartungen kommt es an, politische und militärische Krisen bilden dafür den idealen Nährboden. 1973 war es der Jom-Kippur-Krieg, 1979 die Machtübernahme der Ayatollahs im Iran.

Politische Spannungen

Auch in den letzten 18 Monaten haben die Spannungen im Nahen Osten zur Verunsicherung beigetragen, dazu kamen der Konflikt wegen des iranischen Atomprogramms sowie die Auseinandersetzungen um die Pipeline Nord Stream 2 von Russland nach Mitteleuropa. Auch ökonomische Meldungen über Senkungen der Ölförderung durch Saudi-Arabien, die Verweigerung von zusätzlichen, über vereinbarte Mengen hinausgehenden Gaslieferungen durch Russland oder unzureichende Investitionen der Ölkonzerne nährten Versorgungsängste.

Den größten Verunsicherungsbeitrag in jüngster Zeit leistet Wladimir Putins Truppenaufmarsch. Die Verweigerung von Sicherheitsgarantien durch den Westen und die Lage der Russen im Donbass bieten treffliche Vorwände für Dauermanöver an der Grenze zur Ukraine. Damit ist ein Spannungszentrum etabliert, das je nach der Preisentwicklung von Öl und Gas "situationselastisch" aktiviert werden kann. Das Ziel ist klar und rational: weiter massiv Öl und Gas exportieren, zusätzlich durch Nord Stream 2, und das zu lukrativen Preisen. Denn das technologisch rückständige Russland ist mehr als jedes andere Land der Welt von diesen Exporteinnahmen abhängig, und zwar noch für Jahrzehnte. Gleichzeitig ist die Produktion fossiler Energie ein Auslaufmodell. Also muss in einer langen Übergangsphase die Abhängigkeit Westeuropas von fossiler Energie maximal ausgebeutet werden – durch Angebotsdrosselung und Produktion von Versorgungsängsten.

"Billige" Manöver

Putins Dauermanöver mit 100.000 Mann verursachen nur geringe Zusatzkosten im Vergleich zum Ertrag in Gestalt hoher Öl- und Gaspreise. Gleichzeitig wiederholt er: Russland plant keine Militäraktion außerhalb seiner Grenzen, aber innerhalb deren darf es Manöver nach Belieben durchführen. Beides ist sogar wahr. Mit einer Annexion des Donbass würde Putin eine "Drohkarte" aus der Hand geben und hätte nichts als Scherereien, von einer Invasion in der ganzen Ukraine ganz zu schweigen.

Aber die westlichen Staatenlenker blicken gebannt auf den Dauertruppenaufmarsch, ersuchen um die Gunst wenigstens eines Telefonats und sehen nicht, dass es Putin primär ums Geld geht. Wenn Putin schließlich einlenkt – deswegen hatte er unerfüllbare Sicherheitsgarantien gefordert –, wird er für seine Großzügigkeit gewiss mit Nord Stream 2 – und mehr Zwist zwischen den USA und der EU – belohnt.

Existenzielle Bedrohung

Aber warum weiten die anderen Produzenten fossiler Energie ihr Angebot nicht aus und dämpfen so deren Preise wie nach den Ölpreisschocks der 1970er-Jahre? Weil mit der Bekämpfung der Erderwärmung auch für sie eine existenzielle Bedrohung entstanden ist: Würde es den Industrieländern gelingen, durch steigende CO2-Preise fossile Energie stetig zu verteuern, dann würden diese daraus den Gewinn kassieren in Form der Einnahmen aus CO2-Steuern und Emissionshandel. Dem versuchen die Anbieter zuvorzukommen, indem sie selbst die Preise nach oben treiben. Damit würde es gleichzeitig für die Industrieländer schwieriger, CO2-Emissionen teurer zu machen, schließlich sind Konsumentinnen und Konsumenten sowie Unternehmen durch die Energiekosten schon übermäßig belastet.

Die "drohende" Bekämpfung der Klimakrise hat den globalen Verteilungskampf verschärft und den "Fossilrentiers" und Energiekonzernen klargemacht: Nur gemeinsam sind sie stark. Zu dieser Einsicht hat der Streit zwischen Russland und Saudi-Arabien Ende 2019 erheblich beigetragen: Letztere drehten zur "Bestrafung" Russlands den Ölhahn auf, der Preis fiel in der Folge auf unter 20 US-Dollar. Da ist es doch für alle Anbieter besser, einen Teil des giftigen Schatzes in der Erde zu lassen und so lang wie möglich profitable Preise zu kassieren. (Stephan Schulmeister, 6.2.2022)