Der Tag beginnt zeitig im Rehazentrum Weyer in Oberösterreich. Es ist kurz vor halb acht, und auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang sammelt sich bereits eine Gruppe von Patientinnen und Patienten. "Wanderrunde!", erklärt einer kurz und bündig, was das feste Schuhwerk und die Walkingstöcke schon vermuten lassen. Gehen und Ausdauertraining sind hier ein wesentlicher Teil der Therapie. "Bitte nicht 'Kur' schreiben", betont Gabriele Reiger, die ärztliche Leiterin des von der Pensionsversicherungsanstalt betriebenen Zentrums. "Reha ist kein Urlaub, sondern Arbeit."

"Das stimmt", sagt Sophie G. Die 42-Jährige ist eine der rund 900 Long-Covid-Betroffenen, die bisher in Weyer behandelt wurden. Mittlerweile macht diese Gruppe bereits rund zwei Drittel der Patienten in dem Zentrum aus. Wie viele Menschen insgesamt an Covid-Spätfolgen leiden, weiß man nicht. Die Gesundheitskasse ÖGK geht von zehn bis 14 Prozent aller Covid-Erkrankten aus, die Weltgesundheitsorganisation von zehn Prozent, Studien aus Großbritannien kommen auf 20 Prozent.

Long oder auch Post Covid ist ein neues und durchaus komplexes Krankheitsbild. Die Definition der WHO lautet: "Symptome, die drei Monate nach einer Infektion auftreten, mindestens zwei Monate lang anhalten und nicht durch eine Alternativdiagnose erklärt werden können." Typisch sind starke Erschöpfung (Chronic-Fatigue-Syndrom), Atemnot und eine eingeschränkte körperliche wie geistige Leistungsfähigkeit. Bekannt sind aber viele verschiedene Symptome von Haarausfall bis Durchfall. Aufgrund dieser Bandbreite würden Ärzte oft nicht Long Covid diagnostizieren, heißt es von der ÖGK. Darum seien Zahlen über Betroffene noch nicht wirklich aussagekräftig.

Wandern lässt es sich ganz gut in der Umgebung des Long-Covid-Rehazentrums Weyer in Oberösterreich.
Foto: FOTOKERSCHI.AT / KERSCHBAUMMAYR

Nicht ernstgenommen

"Die Ersten kamen im Herbst 2020 zu uns. Das waren die, die schon im Frühjahr 2020 Covid hatten", sagt Reiger. Auch Sophie G. ist schon Anfang März 2020, also noch vor dem ersten Lockdown, an Corona erkrankt. "Bei 1450 haben sie gefragt, ob ich Kontakt zu jemandem aus Asien hatte. Da meine Antwort Nein war, haben sie gesagt: Dann haben Sie kein Corona", erzählt die Botschaftsmitarbeiterin. Dass es doch Covid-19 war, erfuhr sie erst Wochen später durch einen Antikörpertest.

Fehlendes Wissen und unzureichende Diagnosen sind für Betroffene teilweise eine große Belastung. "Du wirst nur ernst genommen, wenn du im Spital warst", sagt G. "Am Anfang dachte ich noch, dass ich einfach erschöpft bin, weil ich fast einen Monat lang krank war", sagt sie. Doch die Atemnot blieb. Beim Treppensteigen sei ihr regelmäßig die Luft ausgegangen, und auch ihr Geschmackssinn kam nicht zurück. "Erst nach drei Monaten habe ich mir gedacht, da stimmt etwas nicht." Die Hausärztin habe sie aber nicht ernst genommen. Das sei nur ein Vitamin-D-Mangel, habe sie gesagt. Erst als es weitere drei Monate später noch immer nicht besser war, ging G. zum Lungenfacharzt. "Der hat mir dann gesagt, dass meine Lunge nach wie vor geschädigt ist."

"Wir wissen, dass es sich bei Post/Long Covid um eine Überentzündlichkeit der Blutgefäße handelt", sagt Reiger. Wie diese sogenannte "Hyperinflammation" entsteht, sei aber noch nicht vollständig geklärt. "Man geht davon aus, dass Covid-Viren nach der akuten Erkrankung länger im Körper bleiben und dann zu dieser Überentzündlichkeit führen", erklärt die Ärztin. Andere Theorien vermuten, dass sogenannte Epstein-Barr-Viren Covid-Symptome verstärken und Long-Covid auslösen. Über 90 Prozent der Menschen tragen diese Herpes-Viren inaktiv im Körper. Einige Forscherinnen und Forscher argumentieren auch, dass ein Lungenversagen ein Auslöser für Long-Covid sein könnte, weil die bekannten Symptome jenen von Long-Covid-Patienten ähneln.

Die ärztliche Leiterin Gabriele Reiger stellt mit jedem Patienten und jeder Patientin einen individuellen Behandlungsplan zusammen.
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Individuelle Therapie

So unterschiedlich wie die Symptome, so individuell sind auch die Therapieformen. "Es gibt keine einheitliche Long-Covid-Reha", sagt Reiger. Nach der Ankunft in Weyer muss jeder Patient einen Belastungstest absolvieren, bei dem die Sauerstoffsättigung im Blut und der Blutdruck gemessen werden. Je nach Ergebnis wird man in eine von drei Leistungsgruppen eingeteilt. Danach richtet sich der weitere Behandlungsplan.

"Es ist ein super Gefühl, wenn man merkt, wie man sich steigert", sagt Stefan Schiedauf, während er auf einer laminierten Tabelle seinen Trainingsfortschritt zeigt. Der 26-Jährige hat während seiner Corona-Erkrankung fast 20 Kilo Gewicht verloren. "Ich war körperlich auf null, wie eine leere Hülle", sagt er. Er sei ein passionierter Kraftsportler, daher sei ihm die Veränderung besonders stark aufgefallen. "Ich bin im Bett gelegen und wusste nicht, wie ich aufstehen soll."

Bei jedem Training wird der Puls beobachtet, um eine Überlastung zu vermeiden.
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Schiedaufs Behandlungsplan besteht im Wesentlichen aus Atemtraining, Fitness, Ernährung, Ergotherapie, "und das Beste sind natürlich die Massagen", fügt er hinzu. Aufgrund des Gewichtsverlusts gibt es für ihn neben den drei Hauptmahlzeiten noch drei kleinere Zwischenmahlzeiten. Dazu kommen Training der Atemmuskulatur an speziellen Geräten und jeden Tag 25 Minuten Kraft- und 25 Minuten Ausdauertraining im Fitnessraum. Gerade in puncto Fitness ist allerdings Vorsicht geboten. "Überlastung ist ganz schlecht", mahnt Reiger. Es könne leicht zu einer Gegenreaktion im Körper kommen. "Und dann ist man plötzlich wieder drei Tage völlig k. o. und fängt wieder von vorne an", sagt die Ärztin.

Neurologische Symptome

Bei Schiedauf und vielen anderen Patienten zeigen sich aber auch neurologische Symptome. "Ich habe starke Konzentrationsschwierigkeiten, und teilweise fallen mir bei der Arbeit die Wörter nicht ein", sagt der Jusstudent. Mit einer Ergotherapeutin übt er deshalb, sich verschiedene Wortreihen zu merken oder Gegenstände zu benennen. Auch sein Geruchs- und Geschmackssinn sei seit fast einem Jahr stark eingeschränkt. "Hier zum Beispiel rieche ich nur, dass es irgendwie scharf ist", sagt er, während er einen tiefen Zug von einem Fläschchen Pfefferminzöl nimmt. Im Riechtraining hat er verschiedene Geruchsproben bekommen, mit denen er üben soll. "Am Anfang habe ich echt gar nichts gerochen, jetzt kann ich zumindest schon die Hälfte benennen", sagt er.

Stefan Schiedauf bei der Ergotherapie. "Manchmal fallen mir einfach die Wörter nicht ein", sagt er.
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In der Kantine des Rehazentrums kommen die Patientinnen und Patienten in den Behandlungspausen zusammen, lernen einander kennen und tauschen sich aus. "Man glaubt gar nicht, wie reinigend das ist, wenn einen endlich mal jemand versteht", sagt Schiedauf. Sophie G. nickt: "Das ist wirklich unglaublich befreiend, von Menschen umgeben zu sein, die das Problem kennen." Menschen, die nach einer Covid-19-Erkrankung bleibende Symptome bei sich beobachten, raten sie: "Gehen Sie zu einem Vertrauensarzt, am besten zu einem Lungenfacharzt." Und jetzt müssen sie los, denn in wenigen Minuten geht es mit der Wandergruppe an die frische Luft. (Johannes Pucher, 21.2.2022)