Es ist ein sonniger Tag in Mailand. Das Studio von Antonio Citterio liegt nicht weit vom Dom entfernt. Das Gebäude ist schmal und modern. Wie eingeklemmt steckt es zwischen anderen, älteren Häusern. Gegenüber befindet sich eine kleine Bar, in der sich junge Architekten, die in Citterios Diensten stehen, ihre Mittagsjause holen. Das Büro des Gestalters und seiner Partner bringt es auf mehr als 130 Mitarbeiter. Im obersten Stock thront der Chef an einem großen Schreibtisch und heißt seinen Gast gutgelaunt willkommen.

STANDARD: Welchen Gegenstand haben Sie als Kind erstmals so richtig wahrgenommen?

Antonio Citterio: Ich kann mich sehr gut an mein kleines, rotes Fahrrad erinnern. Und natürlich Spielzeug.

STANDARD: Was für Spielzeug? Womit spielte man in Italien Anfang der 50er-Jahre?

Citterio: Mein Vater hatte damals einen kleinen Tischlereibetrieb, wie es sie damals häufig in unserer Gegend gab. Als ich sechs war, stellte er mir ein kleines Tischchen in die Werkstatt, auf dem ich mein eigenes Holzspielzeug bastelte. Kleine Autos und so. Ich liebte es, etwas mit meinen Händen zu tun.

STANDARD: Eine Initialzündung für Ihren Beruf?

Citterio: Durchaus. Als ich 13 war, trat ich in eine Schule für Design und Möbel ein. Mit 19 begann ich mein Architekturstudium, und mit 20 eröffnete ich mein eigenes Büro. Ich startete recht früh.

Antonio Citterio empfängt den STANDARD in Mailand.
Foto: Mattia Balsamini

STANDARD: Besitzen Sie noch eines dieser Holzspielzeuge?

Citterio: Nein, unglücklicherweise nicht. Ich denke, wenn man jung ist, neigt man nicht sehr dazu, alles aufzubehalten. Ich habe erst vor zehn Jahren begonnen, meine Zeichnungen aufzubewahren.

STANDARD: Warum?

Citterio: Keine Ahnung. Oder doch. Ich denke, es in der Vergangenheit nicht getan zu haben, war eine Reaktion auf all die Menschen, die von Anfang an alles aufbewahren, um ihrer Karriere damit den Touch von etwas Legendärem zu verleihen. Für mich war das keine Herangehensweise an meine Arbeit. Ich bin kein Genie. Ich tue meinen Job.

STANDARD: ... aber das überaus erfolgreich auf der ganzen Welt. Und noch dazu seit Jahrzehnten …

Citterio: … ja, danke schön. Dennoch geht es um die Beziehung zu Menschen, Kunden und anderen. Ich halte nichts von dieser Legendenbildung, diesem Kult. Außerdem wurde früher, als ich begann, wahnsinnig viel geredet und diskutiert und experimentiert. Über Formen und Möglichkeiten, Handwerk, Technologien et cetera. Nicht nur gezeichnet. Diese Gespräche kann man nicht aufbewahren.

STANDARD: Der international umtriebige Designer Stefan Diez, der an der Wiener Angewandten Industriedesign lehrt, sagte mir, es wäre für junge Designer heute unmöglich, so zu arbeiten, wie Ihre Generation das getan hat.

Citterio: Damit hat er völlig recht. Mittlerweile ist die Beziehung zwischen Unternehmern und jungen Designern eine völlig andere. Als ich loslegte, verbrachte ich etliche Tage in der Möbelfabrik. Jede Woche. Viele Wochen. Ich sah mir genau an, was die Leute taten und wie sie es taten. Unternehmen wie Flexform gaben mir die Möglichkeit zu lernen. Außerdem existierten nur wenige Designer am Markt.

STANDARD: Was spricht dagegen, dass sich junge Designer heute in den Produktionsstätten aufhalten?

Citterio: Glauben Sie mir, wir leben in einer völlig anderen Welt. Nur wenige Unternehmen arbeiten noch mit Skizzen und Zeichnungen. Heute müssen Designer Daten schicken, die dann elektronisch mit Computern und anderen Maschinen ausgewertet und umgewandelt werden.

STANDARD: Was hat sich noch geändert?

Citterio: Die Frage beantworte ich mit einer Gegenfrage. Können Sie sich vorstellen, dass heute jemand mit 20 sein Designstudio eröffnet? Das ist fast unmöglich. Außerdem muss mittlerweile alles viel schneller gehen. Das zeitgenössische Möbeldesign hat keine Zeit für Experimente. Das war in den 70er-Jahren anders. Nur sechs Prozent des Möbelmarktes entsprachen damals zeitgenössischem Design. Heute steht das zeitgenössische Design mehr oder weniger für den gesamten Markt.

STANDARD: War denn früher alles besser?

Citterio: Aber nein. Zuerst einmal möchte ich sagen, dass die jungen Designer und Designerinnen richtig gut sind. Für meine Generation oder die zuvor, also für Leute wie Achille Castiglioni, war es einfach. Schauen Sie sich hier seine Lampe an meinem Schreibtisch an. Es ist die Leuchte Arco, ein wunderbarer Klassiker. Am Ende des Tages entspricht sie lediglich einer Idee, von der Technik her ist sie nicht besonders anspruchsvoll. Nehmen Sie die kleine Leuchte auf meinem Schreibtisch, die Kelvin Edge von Flos. Da steckt jede Menge mehr drin, allein die Software für die LEDs.

Designer Antonio Citterio gilt als Meister der Einfachheit: Besteck für Iittala ...
Foto: Hersteller
... und das Outdoor-Sofa Ribes für B & B Italia.
Foto: Hersteller

STANDARD: Außerdem ist sie ein Entwurf von Ihnen.

Citterio: Ja, also muss ich sie ja lieber haben. Nein, im Ernst, was ich sagen möchte: In den 60ern hat sich keiner um Kosten oder Technologie geschert. Es war alles viel experimenteller. Wenn es am Markt nichts gibt, ist es einfacher, den Schlüssel für etwas Neues zu finden. Dennoch waren Sottsass, Castiglioni und wie sie alle heißen unsere Meister. Wie gesagt, es gab so wenige Designer, auch in den Vereinigten Staaten waren es nur eine Handvoll. Dann war da noch das Erbe des Bauhaus – und Schluss. Heute existieren tausende Gestalter und Unternehmen. Das ist der Unterschied. Es ist wirklich schwer, heutzutage ein ikonisches Werk zu schaffen. Das ist ähnlich wie in der Musikbranche. Ein Faktor ist wie gesagt die Geschwindigkeit, mit der Dinge gleichzeitig auf der ganzen Welt auftauchen und wieder verschwinden.

STANDARD: Als ich den vor fast drei Jahren verstorbenen Alessandro Mendini in Wien treffen durfte, meinte er, Italien sei nicht mehr die große Designmacht, wie sie es einst war, weil all die großen Namen wie Magistretti, Sottsass und Co fehlen würden.

Citterio: Ich kannte Mendini gut, er war ein sehr feiner Mann, aber in diesem Punkt würde ich ihm widersprechen. Er war ein kreativer Kopf, aber er bewegte sich abseits der industriell machbaren Visionen. Und das galt für viele. Stückzahlen haben diese Entwerfer nicht sonderlich interessiert. Ich bin mehr Teil der industriellen Kultur. Ich denke, als Designer übernimmt man auch Verantwortung für die Menschen eines Unternehmens, die Entwürfe umsetzen. Leute wie Mendini interessierte in erster Linie die freie Kreativität. Er dachte nicht an den Markt.

STANDARD: Vermissen Sie Köpfe wie Mendini?

Citterio: Ja klar. Ich habe sie ja alle gekannt. Als ich mit meinem Studio startete, waren sie bereits große Meister, und ich hatte großen Respekt vor ihnen. Aber sie lebten, wie gesagt, eine andere Kultur. Enzo Mari zum Beispiel war ein Genie. Aber die Beziehung zu ihm war schwierig. Man konnte sich kaum mit ihm unterhalten, es wurde immer gleich extrem politisch. Ettore Sottsass mochte ich besonders. Er vermittelte mir nicht nur meinen ersten Job als Architekt für einen amerikanischen Auftraggeber, nein, durch diesen Job habe ich sogar meine Frau Terry Dwan kennengelernt, die ebenfalls Architektin und Designerin ist.

STANDARD: Er hat Ihr Leben verändert.

Citterio: Das kann man laut sagen. Dann habe ich in Japan Tadao Ando und Shiro Kuramata kennengelernt und den Fotografen Oliviero Toscani, der für die Marke Esprit arbeitete, für die ich einige Projekte in ganz Europa entwarf. Ich könnte Ihnen auch von dem Brief erzählen, den mir Rolf Fehlbaum von Vitra geschrieben hatte, um mich mit Ray Eames bekannt zu machen. Es gab so viele glückliche Begegnungen, die man für ganz normal hält, wenn man jung ist. Man weiß erst später, wie besonders sie waren.

STANDARD: Sie sprachen einmal von Vater und Mutter eines Projekts. Der Architekt steht für den Vater, ein Auftraggeber für die Mutter. Oder umgekehrt. Erzählen Sie mehr davon.

Citterio: Nun, es geht um diese Beziehung. Diese Beziehung ist das Wichtigste, was den gesamten Prozess betrifft. Die Geschichte von Design ist eine von Menschen und Beziehungen, nicht eine vom Marketing. Es ist wie Alchemie oder Pingpong. Obwohl ich immer derselbe bin, sind die Endergebnisse völlig andere, je nachdem, ob ich für Vitra, Flexform oder sonst wen arbeite.

STANDARD: Sie sind der Kopf des Designs der italienischen Firma Flexform. Stimmt es, dass Sie als Jugendlicher über einen der Söhne der Familie zu Flexform kamen, nämlich Antonio Galimberti?

Citterio: Ja, wir waren 16 Jahre alt und gute Freunde. Ich dachte nicht daran, für die Familie zu arbeiten. Irgendwann kam ich vorbei, um zu schauen, was die so machen. Und somit fing alles an. Vor allem das Lernen.

STANDARD: Früher waren die meisten großen italienischen Firmen in Familienbesitz. Auch diesbezüglich hat sich viel verändert. Wie wirkt sich das auf die Entwicklung des italienischen Designs aus?

Citterio: Extrem. Design war, was die Unternehmen betrifft, auf der ganzen Welt eine Geschichte von Familien. Alles begann mit Familien, und Familien fürchten sich nicht vor Zahlen. Nehmen Sie Vitra her, B & B, Flexform, Cassina. Wenn Sie als Familie arbeiten, fürchten Sie sich nicht vor der Börse, vor Aktienkursen. Sie beobachten Umsätze, tätigen nötige Investitionen, aber sie haben nicht das ständige Wachstum im Nacken. Aus diesem Grund hat sich das Design generell gewandelt. Und auch aus diesem Grund können junge Designer heute nicht mehr endlos Zeit in Unternehmen verbringen, um zu forschen und zu lernen. Alles Emotionale und die Hingabe bleiben auf der Strecke.

STANDARD: Wird das schlimmer?

Citterio: Ja, schlimmer und schlimmer.

STANDARD: Sie sagten einmal: "Architektur heißt, man gibt Geld aus. Viel Geld. Mit Design schafft man Geld." Wie meinen Sie das?

Citterio: Oh, das muss aber ein sehr altes Interview gewesen sein.

STANDARD: Stimmt es denn nicht mehr?

Citterio: Nein, es stimmt nicht mehr. Ich war sehr glücklich, derart jung als Designer arbeiten und Geld verdienen zu können. Mitte der 80er-Jahre begann ich, richtig gut Geld zu machen. Dann kam die Architektur hinzu. Wenn man keine Geldsorgen hat, ist es einfacher, seiner Kreativität freien Lauf zu geben und zu investieren. Man kann auch verspielter an die Sachen herangehen. Stellen Sie sich vor: In den Stockwerken unter diesem Büro sitzen mehr als 130 Menschen, die für uns arbeiten. Den Satz, den Sie zitierten, muss ich als sehr junger Mann gesagt haben.

Detail des "La Bella Vita"-Wolkenkratzers in Taichung (Taiwan).
Foto: Yuchen Zao

STANDARD: Es scheint in der Tat gut zu laufen, Sie besitzen ein Haus in Portofino, eines in St. Moritz …

Citterio: Verraten Sie nicht zu viel …

STANDARD: Bleiben wir beim Thema Erfolg. Was raten Sie einem angehenden Designer im Jahre 2022?

Citterio: Nun, die Welt ist die gleiche.

STANDARD: Aber Sie sagten, wir leben heute in einer völlig anderen Welt ...

Citterio: Klar ist heute vieles anders. Lassen Sie mich etwas ausholen: In meiner ersten Vorlesung, die ich an der Uni hielt, sagte ich zu den Studierenden: "Guten Tag, zuerst möchte ich Ihnen sagen, dass niemand in diesem Hörsaal ein Genie ist. Punkt." Manchmal haben junge Leute eine sehr hohe Meinung von sich selbst. Sie sollten etwas bodenständiger sein. Das galt damals und gilt heute. Manche der Jungen sind derart von sich selbst überzeugt, dass sie glauben, sie hätten etwas Neues erfunden. Sie wissen oft gar nicht, dass es diese und jene Gedanken und Ideen bereits gab. Manche schauen sich auch etwas zu viel ab. Das ist keine Kreativität. Es fehlt ihnen an Wissen und Erfahrung. Es gab und gibt oftmals diese typische Arroganz bei den Jüngeren.

STANDARD: Also was raten Sie?

Citterio: Nun, ich rate zur Neugier, zu viel Neugier. Und zu mehr Bescheidenheit. Es kann doch nicht sein, dass jeder Jungdesigner bei einer Präsentation Papiere vom Anwalt dabei hat, welche die Anwesenden unterzeichnen müssen. Aus lauter Angst, man würde ihm den Entwurf stehlen.

"Mitte der 80er-Jahre begann ich, richtig gut Geld zu machen."
Foto: Mattia Balsamini

STANDARD: Apropos Entwurf: Manche Menschen nennen Sie den Meister der Einfachheit. Gehen Sie damit d’accord?

Citterio: Sagen wir es so: Einfachheit gefällt mir besser als Minimalismus. Ich mag den Begriff, aber er verleitet zu Missverständnissen. Einfachheit ist der Umgang mit der Schwierigkeit, Dinge weglassen zu können. Das ist ein großer Job. Ich arbeite mit Reduktion und direkten Lösungen. Für direkte Lösungen benötigt man Know-how. Know-how ist einer der wichtigsten Faktoren für gutes Design.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel nennen?

Citterio: Wenn ich ein Sofa gestalte, weiß ich, wie ich seinen Stoff schneiden muss. Das ist wie bei einem Schneider, der an einem Anzug arbeitet. Wenn man etwas "einfach" gestalten möchte, muss man Bescheid wissen über die Konstruktion im Inneren, die Materialien und so weiter. Das lernt man vor Ort, ich habe bereits davon erzählt. Das verstehe ich unter einer direkten Lösung. Alles Komplizierte resultiert daraus, dass man den Prozess nicht kennt. Junge Designer glauben oft, das Ende eines Prozesses sei das Einfachste, dabei ist es manchmal der komplizierteste Part. Dazu gehört eben auch die Kenntnis von industriellen Vorgängen. Kreativität besteht aus vielen Bestandteilen.

STANDARD: Wie schaut die Zukunft aus?

Citterio: Die hat schon begonnen. Und zwar unter anderem mit der Frage, wie lange ein Produkt zu "leben" hat. Der Prozess des Gestaltens muss sich völlig wandeln. Heute müssen wir uns überlegen, was passiert, wenn ein Produkt an sein Ende gekommen ist. Können wir recyceln? Wie können wir recyceln? Welche Materialien sind diesbezüglich zu verwenden et cetera. Das sind die Probleme. Ich habe im vergangenen Jahr meinen ersten völlig recycelbaren Bürostuhl für Vitra vorgestellt. Bei all diesen Fragestellungen geht es weniger um politische, als um ökonomische Visionen, die wir benötigen. Das gilt natürlich auch für Architektur. Wenn die Weltbevölkerung derart weiterwächst, müssen wir monatlich 450.000 Wohnungen oder Häuser bauen. Können Sie sich das vorstellen?

STANDARD: Dachten Sie in den 70er-Jahren daran, dass es vielleicht einmal so weit kommen könnte?

Citterio: Nein! Niemand. Niemand dachte daran, etwas zu recyceln. Und nun tragen wir Verantwortung. Es geht nicht mehr nur um Ästhetik und die Beziehung zu Unternehmen. Es geht um die Beziehung zur ganzen Welt! Das ist keine Ideologie, sondern eine Notwendigkeit. (Michael Hausenblas, RONDO, 10.2.2022)