Jean Seberg am Set von "Außer Atem".

Foto: Imago / ZUMA Press

In der Serie "Geradegerückt" betrachten wir Geschichten über weibliche Berühmtheiten genauer und fragen, welche Erzählungen sich über diese Frauen durchgesetzt haben – und was daran womöglich falsch ist.

Die "Akte Seberg" hat hunderte Seiten. Jede davon ist voll illegal erhaschter Einblicke in das Leben, die Psyche und das Bett der Schauspielerin Jean Seberg. Die Akte beinhaltet ihren Tagesablauf und ihre Aufenthaltsorte, Mitschriften ihrer Telefonate und heimlich geschossene Fotos. Und dazwischen sind interne Memos der US-Ermittlungsbehörde FBI abgeheftet, die für all das verantwortlich ist. Denn Seberg engagiert sich gegen Rassismus und für die US-amerikanische Black Panther Party. Das Ziel ihrer Überwachung wird in der Akte mit einem einzigen Wort zusammengefasst: ihrer "Neutralisierung".

Vom Rampenlicht verbrannt

Die Kettenreaktion, die zu alldem führt, wird 1956 in Gang gesetzt. Jean Seberg ist erst 17 Jahre alt, als sie durch eine Talentsuche vom ländlichen Iowa nach Hollywood gerät. Blutjung und unerfahren wird sie für Rollen ausgewählt, die sie nicht ausfüllen kann. Die Kritiker sind gnadenlos, der Regisseur, der sie entdeckt hat, ebenso. Als sie in einer Szene auf einen Scheiterhaufen steigen soll, gerät dieser tatsächlich in Brand. Die Flammen erfassen ihren Körper. Fasziniert von ihrem unverfälschten Schrei verwendet der Regisseur ihn im Film. Mit nur 21 Jahren verlässt Seberg Hollywood. Die Traumfabrik hat sie beinah zermalmt.

Sie geht nach Paris und erhält dort eine der Hauptrollen in "Außer Atem". An der Seite von Jean-Paul Belmondo spielt sie eine amerikanische Studentin, die einem Kleinkriminellen erst zur Geliebten und dann zum Verhängnis wird. Der Film bricht mit den etablierten Regeln des Kinos, stößt erst auf Unverständnis und wird dann zu einem Klassiker der Nouvelle Vague. Seberg mit ihrem raspelkurzen Haar und dem bildschönen Gesicht wird zur Ikone. Das T-Shirt, das sie in ihrer Rolle trägt, wird bis heute als kultiger Merchandise gekauft.

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Seberg ist plötzlich ein Star des französischen Kinos. 1962 bringt sie in Paris einen Sohn zur Welt, dessen Vater der Schriftsteller Romain Gary ist. Die beiden heiraten und führen eine offene, von einvernehmlichen Affären geprägte Ehe. Sebergs Erfolg bleibt auch in ihrer Heimat nicht unbemerkt. Die nächsten Jahre lebt und arbeitet sie beiderseits des Atlantiks. 1968 reist sie für ein Engagement zurück in die USA, wo die Bürgerrechtsbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg gerade ihren Siedepunkt erreichen. Und Seberg weiß, auf welcher Seite sie steht.

Die Black Panthers und der Star

Sie unterstützt die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und Indigene, die nahe ihrem Heimatort leben. Ihr Engagement spricht sich herum, und wohl nicht ganz zufällig lässt sich auf einem Flug neben ihr der schwarze Aktivist Hakim Jamal nieder. Als die beiden den Flieger verlassen, hat er sie als Unterstützerin gewonnen. Ab da setzt Seberg sich für die Black Panther Party ein, eine sozialistische Bewegung, die für die Rechte schwarzer Amerikaner:innen kämpft.

Die Black Panthers setzen dabei auf Selbstverteidigung. Bewaffnet patrouillieren sie durch Stadtviertel, um Polizeigewalt zu verhindern. Daneben führen sie Sozialprogramme ein, etwa ein tägliches Frühstück für armutsbetroffene Kinder. Dieses Frühstücksprogramm unterstützt Seberg mit einer Spende. Es ist das erste Mal, dass sie auf dem Radar des FBI auftaucht. Denn die Behörde versucht, die Black Panther Party mit allen Mitteln zu zerschlagen.

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Das Hauptquartier der Black Panther Party in Oakland, Kalifornien. Seberg stand mit der Führungsriege im Austausch.
Foto: AP / File

Die Vereinigten Staaten sind damals, zur Zeit des Kalten Krieges, von der "roten Angst" ergriffen. Panik vor kommunistischer Unterwanderung umspült Politik, Bevölkerung und Behörden. Das FBI unter J. Edgar Hoover lanciert das berüchtigte Programm "Cointelpro". Es soll "subversive" Organisationen und Menschen durch Überwachung, Psychoterror und Verfolgung mundtot machen. Viele der verwendeten Methoden werden Jahre später von einem Komitee des US-Senats als illegal eingestuft. Doch Jean Seberg trifft das Programm mit aller Wucht.

Fremde Augen überall

Als Prominente ist sie für die Black Panthers eine wertvolle Verbündete, für das FBI eine Bedrohung. Seberg hilft der Bewegung mit Geld und Presseauftritten und gewährt Aktivisten in ihrem kalifornischen Haus Zuflucht. Noch 1968 lanciert das FBI eine Kampagne gegen sie. Ihr Telefon wird abgehört, ihre Briefe geöffnet, ihr Haus ausspioniert und jeder ihrer Schritte überwacht. Das FBI ist stets über ihren aktuellen Aufenthaltsort informiert. Seberg merkt, dass etwas nicht stimmt. Wenn sie telefoniert, hört sie ein Klicken in der Leitung. Auf der Straße wird sie beschattet. Auch in ihren privatesten Momenten spürt sie immer den Blick fremder Augen auf sich. Ihre Psyche beginnt zu splittern, doch endgültig zerbrechen wird Seberg erst im Jahr 1970.

Sebergs Leben wurde 2020 mit Kristen Stewart in der Hauptrolle verfilmt.
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Durch die Überwachung weiß das FBI von ihrer offenen Beziehung und ihren Liebschaften mit Black-Panther-Aktivisten. All das – die freie Ehe, ihr Aktivismus, ihr Umgang mit schwarzen Menschen und insbesondere schwarzen Männern – reicht schon einzeln für einen Skandal aus. Doch im Frühling 1970 erwartet Seberg ein Kind. Ihre Schwangerschaft bietet die Chance zu einem letzten, unerbittlichen Schlag. Und so wird in FBI-Memos in nüchternen Worten die Vernichtung der Jean Seberg skizziert.

"Es wird Erlaubnis erbeten, die Schwangerschaft von Jean Seberg, bekannte Filmschauspielerin, publik zu machen", steht in einer direkt an Hoover adressierten Meldung. Es soll das Gerücht gestreut werden, dass der Vater des ungeborenen Kindes ein Black Panther sei. "Wir glauben, dass die mögliche Veröffentlichung von Sebergs Lage dazu führen könnte, sie bloßzustellen und ihr Image in der Öffentlichkeit zu entwerten." Der FBI-Direktor erteilt die Erlaubnis – mit der Anweisung, so lange zu warten, bis Sebergs gewölbter Bauch auch sichtbar ist.

"Papa soll ein Black Panther sein"

Der falsche Tipp wird Klatschblättern in Hollywood gesteckt. Im Mai landet er auf dem Schreibtisch einer Kolumnistin der "Los Angeles Times", deren Klatschspalte in über hundert Zeitungen landesweit erscheint. Die fingierte Geschichte ist an diesem Tag ihr großer Aufmacher. Seberg wird nicht namentlich genannt, doch ihre Identität ist nur allzu leicht erkennbar. "Papa soll ein prominenter Black Panther sein", schließt das Stück über ihre Schwangerschaft in honigsüßem Ton. Wenig später greift das große Nachrichtenmagazin "Newsweek" die Story auf – und veröffentlicht Sebergs Namen.

Im siebenten Monat schwanger flieht sie vor der medialen Kampagne in die Schweiz. Doch sie ist nervlich so am Ende, dass viel zu früh die Wehen einsetzen. Ihre Tochter Nina wiegt bei der Geburt nur 1,8 Kilogramm und stirbt zwei Tage später. Seberg lässt ihr Kind in ihrem Heimatort beisetzen und zuvor öffentlich aufbahren. Hunderte Paparazzi fotografieren den kleinen Leichnam. Er ist weiß.

Danach zerbricht Jean Seberg endgültig. Sie leidet an Angstzuständen, Paranoia und Depressionen. An jedem Todestag ihrer Tochter versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Das FBI hat die Überwachung eingestellt. Doch Seberg, die in viele Scherben zersprungene Frau, wähnt ihre unsichtbaren Beobachter noch immer um sich. Sie verfällt Alkohol und Drogen und gerät immer wieder an Männer, die ihre Labilität ausnutzen.

Im Spätherbst 1979 verschwindet sie plötzlich aus ihrer Pariser Wohnung. Erst Tage später wird sie tot in einem geparkten Wagen entdeckt. Bei ihr wird ein kurzer Abschiedsbrief gefunden, die Pariser Polizei stuft ihren Tod als Suizid ein. Doch ein Jahr später nimmt sie wegen unterlassener Hilfeleistung Ermittlungen gegen unbekannt auf. Sebergs Blutalkohol lag bei fast acht Promille, einem Wert, den ein Mensch unmöglich selbst erreichen kann. Bis heute ranken sich verschiedene Verschwörungstheorien um ihren frühen Tod.

Nur Tage danach wird ein Antrag auf Dokumentenherausgabe an das FBI gestellt. Es muss die "Akte Seberg" veröffentlichen, die Zerstörung einer Frau liegt plötzlich offen da. Fassungslose Reporter:innen setzen die Scherben zusammen und erkennen die eigene Instrumentalisierung. Doch es ist zu spät. Jean Seberg wird auf dem Friedhof Montparnasse in Paris beigesetzt. (Ricarda Opis, 11.2.2022)