Selbst in Zeiten des Kalten Krieges hat Russland zuverlässig Gas nach Europa geliefert. Die EU arbeitet dennoch an Notfallplänen.

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Olaf Scholz in Washington, Emmanuel Macron in Moskau, aber auch Spitzendiplomaten anderer Länder als Deutschland und Frankreich sind derzeit unterwegs mit einem Ziel: den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine abzukühlen, der sich in den vergangenen Wochen gefährlich erhitzt hat. Ganz nebenbei geht es auch um die Gasversorgung Europas, was angesichts des Wärmebedarfs gerade in der kalten Jahreszeit alles andere als zweitrangig ist.

Der alte Kontinent ist, was Energielieferungen betrifft, zu einem überwiegenden Teil von Importen aus Drittländern angewiesen. Besonders einseitig stellt sich die Abhängigkeit für Europa bei Erdgas dar. Rund 40 Prozent des Gasbedarfs aller EU-Länder zusammengerechnet werden aus russischen Quellen gedeckt. Einige Länder sind in noch weit höherem Ausmaß von Gaslieferungen aus Russland abhängig, Österreich war dies im Mittel der vergangenen Jahre zu etwa 80 bis 85 Prozent.

"Auf jedes Szenario vorbereitet sein"

Um für den Fall der Fälle gerüstet zu sein, wird nun auch in Brüssel an Notfallplänen gearbeitet. Die Gasversorgung von Haushalten und Industrie in Europa soll auch bei reduzierten Gasflüssen aus Russland sichergestellt sein, lautet das Vorhaben, über das die Financial Times mit Hinweis auf Diplomatenkreise am Montag berichtet hat. Vergangenen Freitag hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemeint, die EU müsse auf "jedes Szenario" mit Russland und der Ukraine vorbereitet sein – ein Teil davon bestehe darin, alles zu tun, um alternative Energiequellen zu finden.

Bereits in den vergangenen Wochen hat die aus Estland stammende EU-Energiekommissarin Kadri Simson vorgefühlt, woher und auf welchem Weg kurzfristig Gas nach Europa gelangen könnte. So hat sich etwa das gasreiche Aserbaidschan bereiterklärt, einzuspringen und zusätzliche Mengen über das bestehende Leitungsnetz durch die Türkei nach Europa zu schleusen. Norwegen hat seine Lieferungen bereits in den Wochen vor Weihnachten merklich erhöht und ist damit einem Wunsch europäischer Kunden nachgekommen.

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Riesentanker sind auf den Weltmeeren unterwegs, um große Mengen von verflüssigtem Erdgas, sogenanntem LNG, von A nach B zu bringen. Zuletzt haben auch immer mehr LNG-Tanker in europäischen Häfen angedockt.
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Deutlich zugenommen haben auch die Mengen an LNG (Flüssigerdgas), die in den vergangenen Wochen in europäischen Häfen, die über entsprechende Infrastruktur verfügen, regasifiziert und in das Leitungsnetz eingespeist wurden. Ging das in Riesenschiffen gebunkerte LNG, das bei minus 160 Grad Celsius flüssig wie Wasser wird, bis vor wenigen Monaten wegen des zu erzielenden höheren Preises großteils noch nach Asien, hat sich das Blatt inzwischen gewendet. Schiffe, die in Flüssiggasterminals im Golf von Mexiko beladen werden, aber auch Schiffe aus Katar oder Australien machen immer öfter Kurs auf Europa, seitdem die Gaspreise hierzulande so dramatisch in die Höhe geschnellt sind.

Verflüssigtes Erdgas sei eine Option, um mögliche russische Lieferausfälle zumindest teilweise zu kompensieren, sagen Energieexperten. Jetzt machten sich die hohen Investitionen in Regasifizierungsanlagen insbesondere in Spanien und Frankreich, aber auch in Italien bezahlt, die früher oftmals als unwirtschaftlich kritisiert wurden.

Mehr verflüssigtes Erdgas

Der US-Finanzdienstleister Citigroup schätzt, dass die Region mit den bestehenden Anlagen und historischen Auslastungsraten von 50 Prozent oder darunter theoretisch genug bewältigen kann, um fast zwei Drittel der russischen Pipeline-Gasimporte zu ersetzen. Der begrenzende Faktor wäre nicht die Regasifizierungskapazität, sondern das verfügbare Angebot an LNG.

Weil die Fahrzeit von Amerika nach Europa kürzer ist als die nach Asien, könnte die Exportkapazität ex USA um etwa zehn Prozent steigen, hat Massimo di Odoardo vom Beratungsunternehmen Wood Mackenzie im Economist vorgerechnet. Alles in allem könnte zusätzliches LNG rund 15 Prozent der Menge ersetzen, die bei einem vollständigen Lieferstopp Russlands fehlen würde.

Im Fall des Falles wären Haushalte als Letzte an der Reihe, ihren Gasverbrauch einzuschränken. Sollte es zu ernsthaften Lieferausfällen kommen, müssten zumindest in Österreich zuerst Industrieunternehmen ihren Gasbezug drosseln.
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Haushalte müssten jedenfalls als Letzte zittern, wird betont. Zuvor würden Industrieunternehmen angehalten, ihren Verbrauch freiwillig zu drosseln, gegebenenfalls auch gezwungen. Ohne staatlichen Eingriff käme Österreich bei einem sofortigen hundertprozentigen Lieferstopp aus Russland bis Mitte/Ende März mit dem in Speichern vorhandenen und im Inland geförderten Gas aus, bei Halbierung der Liefermenge bis zum Ende der Heizsaison.

Ihren Notfallplan will die EU-Kommission im März vorstellen. Bei einer Eskalation des Konflikts müsste es wohl rascher gehen. (Günther Strobl, 7.2.2022)