Ein Schulabschluss bedeutet nicht automatisch, dass die Schrift gut genug fürs Leben beherrscht wird.

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Wer am Sonntag die "Kronen Zeitung" gelesen hat, war wohl alarmiert: Kolumnist und Beinahe-Verfassungsrichter Tassilo Wallentin schrieb in seiner Kolumne, dass 30 Prozent der 15-Jährigen in Österreich "nicht wirklich lesen, schreiben oder rechnen" könnten.

Zum Vergleich zählt Wallentin andere Prozentsätze aus anderen Ländern auf: "Schlimmer als bei uns ist die Analphabetenrate unter Jugendlichen nur noch in Eritrea (35 Prozent), Osttimor (41 Prozent), Burundi (42 Prozent) und Burkina Faso (71 Prozent)." Wallentin will damit illustrieren, dass es mehr Leistungsdruck in der Schule bräuchte.

Bis zu 800.000 Betroffene

Nun stehen die angeführten Länder vor ganz anderen bildungspolitischen Herausforderungen als Österreich, und der "Krone"-Kolumnist verdeutlicht mit seiner wilden Mischung aus Prozentsätzen unterschiedlicher Statistiken vor allem, dass es hierzulande auch bei formal hochgebildeten Menschen Defizite in der Medienkompetenz gibt.

Was aber stimmt: Es gibt zu viele Menschen in Österreich, die nicht gut genug lesen und schreiben können. Wie viele Menschen in Österreich tatsächlich von "funktionalem Analphabetismus" betroffen sind, darüber gibt es nur Schätzungen – die Unesco geht etwa von bis zu 800.000 Personen aus. Eine umfangreiche Studie der OECD, das "Programme for the International Assessment of Adult Competencies" (PIAAC) kam zu dem Schluss, dass 960.000 der 16- bis 65-Jährigen in Österreich nur schlecht oder gar nicht lesen können – die Zahlen stammen von 2012, die Folgeerhebung findet erst dieses Jahr statt.

Primärer und funktionaler Analphabetismus

Es handelt sich auch um eine Definitionsfrage. Von "primärem Analphabetismus" wird in der Wissenschaft gesprochen, wenn Menschen nie lesen und schreiben gelernt haben. "Funktionaler Analphabetismus" bedeutet hingegen, dass die Betroffenen die Schriftsprache nicht gut genug beherrschen, um an wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen – also etwa ein Formular auszufüllen oder den Aufklärungsbogen für einen medizinischen Eingriff zu lesen und zu verstehen.

Diese Lese- und Schreibschwäche tritt – prozentuell gesehen – häufiger auf, je geringer der formale Bildungsgrad eines Menschen ist. Auch Personen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch haben öfter Probleme mit Lesen und Schreiben. Aber: Wie die PIAAC-Studie zeigt, gibt es in so gut wie jeder gesellschaftlichen Gruppe Menschen, die zumindest grobe Schwierigkeiten mit der Schrift haben.

Alle Gruppen vertreten

So landeten immerhin knapp vier Prozent der Befragten mit einem Uni-, FH- oder Meisterabschluss in der Kompetenzstufe eins oder darunter – sie haben also mitunter Probleme, längere, kompliziertere oder unvertraute Texte zu verstehen.

Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben Menschen aus allen sozialen Gruppen.
grafik: der standard

Dass all das ein Problem ist, liegt auf der Hand. Deshalb fördern Bund und Länder seit 2012 im Rahmen der "Initiative Erwachsenenbildung" Gratiskurse für alle, die im Erwachsenenalter Bedarf an grundlegenden Bildungsmaßnahmen haben.

John Evers leitet diesen Bereich bei den Wiener Volkshochschulen. "Es ist wirklich ein Massenphänomen", sagt er über den Mangel an "Basisbildung": "Das ist nichts, was man nur auf eine soziale Gruppe reduzieren kann." Ja, Menschen mit Migrationshintergrund sind relativ gesehen besonders häufig davon betroffen. Aber: In absoluten Zahlen machen Österreicherinnen und Österreicher ohne diesen Background den größten Anteil der Betroffenen aus. Diese Menschen, die das gesprochene Deutsch gut beherrschen, hanteln sich lange Zeit durchs Leben, "entwickeln Strategien", wie Evers sagt: Sie bestellen im Restaurant immer das Gleiche, um nicht in die Speisekarte schauen zu müssen; oder verweisen oft auf eine vergessene Brille, wegen der sie nicht lesen könnten.

Das Tabu ist noch stark

Sie seien auch am schwierigsten zu erreichen, weil das Thema nach wie vor tabuisiert ist. Irgendwann gibt es aber einen Auslöser, der die Betroffenen Hilfe suchen lässt: eine Prüfung, ein Kind, das Unterstützung bei der Hausübung braucht.

Was laut Evers in Österreich fehlt: eine Kampagne, die Menschen mit Bildungsbedarf die unbegründete Scham nimmt. (Sebastian Fellner, 8.2.2022)