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Der erste Sprung von Daniela Iraschko-Stolz wurde aus der Wertung genommen, weil ihr Anzug nicht regelkonform war.

Foto: AP Photo/Matthias Schrader

Peking – Agnieszka Baczkowska ist wohl selbst den größten Skisprungfans kaum ein Begriff. Nach dem olympischen Mixed-Team-Bewerb stand die Materialkontrolleurin aber im Mittelpunkt. Denn die Polin disqualifizierte fünf Athletinnen, darunter auch Österreichs Daniela Iraschko-Stolz, wegen irregulärer Anzüge. Das Ergebnis wurde dadurch komplett durcheinandergewürfelt. Während Russland und Kanada sensationell Silber und Bronze holten, blieben die höher eingeschätzten Nationen Norwegen, Japan und Österreich ohne Medaille. Deutschland verpasste gar die Qualifikation für den zweiten Durchgang.

Der Weltverband Fis und die strikte Materialkontrolle standen daher in der Kritik. In den Fokus rückten die für die Frauen zuständige Kontrolleurin Baczkowska sowie der für die Männer verantwortliche Mika Jukkara. Letzterer sei laut dem deutschen Ex-Springer Martin Schmitt auch "bei der Kontrolle der Damen dabei" gewesen", zitiert "Sport1" den Eurosport-Experten.

Baczkowska sagte nun am Dienstag: "Das ist mein härtester Tag in zehn Jahren als Materialkontrolleurin gewesen. Ich muss aber dafür sorgen, dass alle die gleichen Chancen haben, denn es geht um Gerechtigkeit." Der Gerechtigkeit hat sie in Zhangjiakou zumindest aus ihrer Sicht Genüge getan.

Materialkontrolleurin: "Das ist mein Job"

Baczkowska, seit bald zwei Jahrzehnten im Skisprung-Hintergrund tätig, hatte schon am Samstag im Frauen-Einzel die Österreicherin Sophie Sorschag wegen unzulässig überklebter Sponsorenlogos disqualifiziert. Zwei Tage später musste "Aga" Interview um Interview geben. Den Wirbel verstand sie nicht.

"Was soll ich denn machen, wenn jemand mit einem um zehn Zentimeter zu großen Anzug springt? Also, bitte! Das sieht man ja schon mit bloßem Auge", sagte die studierte Anglistin und Sportwissenschafterin. Die Kritik an ihrer Person retournierte Baczkowska via Frontalangriff auf die Betroffenen: "Ich hätte nicht gedacht, dass dies bei Olympia passieren kann. Ich war davon ausgegangen, dass sich die Teams vorbereiten und den Wettkampf ernst nehmen."

Dem polnischen Sender TVP Sport sagte sie: "Ich sage immer, dass ich niemanden disqualifiziere – die Athleten disqualifizieren sich selbst, weil sie in der nicht den Vorschriften entsprechenden Kleidung springen", sagte Baczkowska. "Und die Unterschiede waren nicht ein oder zwei Zentimeter." Im Skispringen gebe es strenge Regeln, weil größere Anzüge Vorteile bringen. Baczkowska fügte hinzu: "In Anbetracht der Geschehnisse arbeiten wir auch daran, die Regeln zu ändern oder zu verbessern."

Fakt ist: Zumindest bei Iraschko-Stolz und der Japanerin Sara Takanashi bestätigten die Teams selbst, dass die Anzüge zu groß waren. Dass der Zorn der gesamten Skisprungwelt Baczkowska traf, war also vielleicht zu billig. "Ich", sagte sie, "mache nur meinen Job."

Stecher und der Zeltverleih

Iraschko-Stolz wurde wegen eines nicht regelkonformen Hüftbands am Anzug disqualifiziert. Dieses war laut der Springerin um einen Zentimeter zu weit. ÖSV-Sportdirektor Mario Stecher bestätigte dann auch unfreiwillig, dass die Teams das Regelwerk eher als unverbindliche Empfehlung ansehen. "Im Weltcup gibt es teilweise Anzüge, die so groß sind, dass man glaubt, man ist beim Tiroler Zeltverleih", polterte er. "Bei Olympia greift man schließlich rigoros durch. Da muss ich mich schon fragen, ob das der richtige Weg ist."

Die Welle der Empörung ergoss sich über die gestrenge Materialkontrolleurin. "Mein Herz ist gebrochen, bei 160 Weltcups, fünf Weltmeisterschaften und dreimal Olympia zum ersten Mal disqualifiziert", meinte die in Tränen aufgelöste disqualifizierte Deutsche Katharina Althaus. "Wir sind schon sehr verfolgt von diesen Kontrollen", sagte der deutsche Herren-Trainer Stefan Horngacher, mit Baczkowska aus seiner Zeit als Polens Nationalcoach bestens vertraut.

Ex-Materialkontrolleur: "Desaster"

Am Dienstag äußerte sich auch der langjährige Skisprung-Materialkontrolleur Sepp Gratzer zu den Vorkommnissen. Er kritisierte seinen Nachfolger Mika Jukkara für den kuriosen Mixed-Teambewerb schwer. "Das war ein Desaster!", sagte Gratzer der "Tiroler Tageszeitung".

"Ich habe den Eindruck, dass er von heute auf morgen alles verändern und die Kontrolltätigkeit anders anlegen will. Für mich ist er momentan nicht der richtige Mann auf dem Platz, da hat man sich wohl geirrt", so Gratzer. Der 66-jährige Kärntner gab den Posten erst Ende der vergangenen Saison im März 2021 ab.

"Fehlendes Fingerspitzengefühl"

Dem Finnen eilt ein Ruf als strenger Mann voraus. "Wenn man einen Namen hatte, ist man früher leichter durchgerutscht", sagte Österreichs Männer-Cheftrainer Andreas Widhölzl vor Saisonbeginn. "Ihm ist das egal, er macht keinen Unterschied. Das finde ich gut." Gratzer sagte nun über Jukkara: "Es fehlt ihm am Fingerspitzengefühl für den Sport." Man müsse mit den Athleten "auf Augenhöhe kommunizieren" und nicht "der Oberlehrer sein".

Über seine Zeit und den krassen Kontrast am Montagabend in Zhangjiakou sagte Gratzer: "Unsere Prämisse war immer: Die Materialkontrolle darf in einem Wettkampf nie ganz im Vordergrund stehen. Sie ist eine Randerscheinung, die Fairness und Chancengleichheit garantiert. Das ist offensichtlich in diesem Fall nicht gelungen." Österreich, Japan, Norwegen und Deutschland hatten so kaum noch Medaillenchancen, für Manuel Fettner und Co wurde es letztlich Platz fünf.

Fettner analysierte mit einem Tag Abstand die Disqualifikationen abgeklärt. In der ersten Enttäuschung sei es auch für ihn komisch gewesen, sagte er im ORF. "Jetzt sehe ich es nüchterner. Es sind viele Damen kontrolliert und nicht disqualifiziert worden. Natürlich hätte man es früher lösen können, aber wir wollen alle einen fairen Sport. Man sieht, dass sie zurecht disqualifiziert wurden, sonst wären sie nicht disqualifiziert worden."

Deutsche verteidigen Jukkara

Schmitt verteidigte Jukkara. Dieser mache einfach seinen Job. "Der kann jeden disqualifizieren und kann das auch belegen. Er hat Recht. Man kann ihm eigentlich nicht die Schuld geben." Der Ex-Springer sieht die Verantwortung bei der Fis. "Sie sollte sich überlegen, ob man den Männerkontrolleur bei den Damen einsetzt."

Auch Schmitts ehemaliger Teamkollege Sven Hannawald äußerte sich im Nachrichtenportal Watson zur Causa. Jukkara sei ein Kontrolleur, der "rigoros auf die Anzüge achtet", unter anderem deshalb seien die Wettkämpfe der Männer mittlerweile "fairer gestaltet". Es wäre laut Hannawald allerdings sinnvoll gewesen, den Frauen "ein bis zwei Tage vorher" mitzuteilen, dass "Jukkara nach seinen Richtlinien kontrollieren wird".

Die eigentliche Farce sei gewesen, "dass die Frauen den gleichen Anzug von ihrem Einzelwettkampf gesprungen sind, der da für die Kontrolleurin der Frauen in Ordnung war". (red, APA, sid, 8.2.2022)