Wenn Unterrichtsstoff "Unwohlsein, Schuld oder Kummer" im Zusammenhang mit politischen Überzeugungen auslöst, soll er in South Carolina künftig verboten sein. Information über Themen wie Sklaverei oder Holocaust wird zum gesetzlichen Minenfeld.

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Neusprech, die umgebaute Sprache aus George Orwells Roman "1984", erfreut sich vor allem in rechten und konservativen US-Kreisen neuer Beliebtheit. Er wird besonders gerne als Beispiel herangezogen, wenn es darum geht, die angeblichen Auswüchse politischer Korrektheit kritisch zu hinterfragen: Man dürfte nicht mehr sagen, was man denke, heißt es dann oft, sondern müsse sich hinter erfundenen Wortschablonen verstecken. Ins gedankliche Schema des Neusprech passt aber auch, was sich in vielen US-Bundesstaaten derzeit in der Schulbildung ereignet. Dort werden Forderungen konservativer Gruppen nach dem Verbot einer stets wachsenden Liste von Büchern immer lauter. Begründet werden sie ausgerechnet mit der Meinungsfreiheit.

Diese, so das Argument, gebe Eltern das Recht, ihren Kindern die Werte beizubringen, die sie für richtig halten. Werde in der Schule anderes verbreitet, sei die Meinungsfreiheit der Eltern eingeschränkt. Erst jüngst sorgte das Verbot des Holocaust-Comics "Maus" für Aufregung, das ein Schulbezirk in Tennessee durchgesetzt hatte. Die Liste der bemängelten Lektüre ist allerdings viel länger – und auf viele Themen bezogen.

Wissen über Sexualität im Allgemeinen und jene Ausprägungen, die konservativ-religiösen Ansichten entgegenlaufen, im Besonderen soll den Schülerinnen und Schülern nicht vermittelt werden. Ebenso wenig ist Margaret Atwoods feministische Dystopie "Der Report der Magd" erwünscht. Und der Kampf gegen die "Critical Race Theory" erfasst mittlerweile auch Werke wie das von der "New York Times" vorangetriebene "1619 Project", das sich mit der Sklaverei und ihren Folgen bis heute befasst. Weißen Schülerinnen und Schülern werde damit zu Unrecht ein Gefühl der persönlichen Schuld eingeimpft.

Alter Streit, neue Dynamik

Der US-Streit um Bücher im Unterricht ist nicht neu: Seit Jahren befinden sich auf der Liste "bedrohter Bücher" der American Library Association von Konservativen kritisierte Werke, in denen etwa Nacktheit, Alkohol oder Sexualität thematisiert werden. Von der anderen Seite kam zugleich immer wieder Kritik an US-Klassikern wie "Wer die Nachtigall stört" und "Von Mäusen und Menschen". Hier würden rassistische Stereotype reproduziert, so das Argument, zudem kommt das N-Wort vor. Doch die derzeitige Debatte übertrifft in Dynamik, Ausmaß und vor allem Politisierung die vergangenen bei weitem.

Das Pen-Zentrum, ein Verband von Autorinnen und Autoren, der sich für Redefreiheit einsetzt, zählte Ende Jänner 122 Gesetzesvorlagen, sogenannte "educational gag orders", in 33 US-Bundesstaaten. 88 davon sind derzeit in Kraft. Allein in den ersten drei Jänner-Wochen kamen 71 dazu. Bei der American Library Association, einer Bibliothekenvereinigung, gingen derweil allein im Herbst 330 Beschwerdemeldungen über Bücher ein, eine vorher noch nie dagewesene Anzahl.

"Beide Seiten" beim Holocaust

Die "School Boards", in mehr als 90 Prozent der Fälle sind das politisch gewählte Institutionen, werden so zu mächtigen Entscheidungsgruppen. Dabei geht es nicht immer nur um Literatur – beschränkt werden soll auch, worüber das Lehrpersonal sprechen darf. Im nordtexanischen Carroll wies die mehrheitlich konservative Schulverwaltung jüngst Lehrkräfte an, bei der Behandlung des industrialisierten Massenmords an den europäischen Juden im Geschichtsunterricht auch "entgegengesetzte" Sichtweisen darzustellen. Es ist ein Wunsch, der im Einklang mit dem oft vorgebrachten konservativen Begehr steht, bei strittigen Themen – Klimawandel, Sexualität, Corona – auch bei der Diskussion wissenschaftlicher Erkenntnisse solche Ansichten einzubinden, die diesen widersprechen. Im Fall des Holocaust distanzierte sich die Behörde, als der Vorgang im Oktober vergangenen Jahres öffentlich wurde.

Kurz darauf kam das Verbot von "Maus": "Unnütze Verwendung von Obszönität und Nacktheit sowie die Darstellung von Gewalt und Suizid" wurden daran moniert, was für die Altersgruppe nicht angemessen sei. Angeprangert wurden auch die Thematisierung von vorehelichem Sex und "acht Schimpfwörter". Der Autor Art Spiegelman sieht das Vorgehen der Schulbehörde im Zusammenhang mit einem "größeren Problem" in den USA. Der Verbannung hafte ein "Hauch von Autokratie und Faschismus" an.

Feindbild "Critical Race Theory"

Zahlreiche Gesetzesvorlagen beschäftigen sich explizit mit "Critical Race Theory". Republikanische Wahlkämpfe kommen mittlerweile kaum mehr ohne sie aus: Glenn Youngkin, der vergangenes Jahr überraschend die Gouverneurswahl in Virginia gewann, hatte das Narrativ im Wahlkampf ebenfalls exzessiv genutzt. In einer seiner ersten Amtshandlungen als Gouverneur ließ er eine Hotline einrichten: Besorgte Eltern können dort Lehrpersonal melden, wenn sie der Ansicht sind, dass im Unterricht CRT vorkommt.

In New Hampshire setzte die konservative Gruppe Moms for Liberty gar ein Kopfgeld von 500 Dollar auf Unterrichtspersonal aus, das den Eindruck erweckt, eine bestimmte Gruppe könne als Ganzes unterdrückend wirken. Dort war zuvor ein Gesetz in Kraft getreten, das Schulen unter anderem untersagt, im Unterricht zu thematisieren, dass eine bestimmte Gruppe grundsätzlich – bewusst oder unbewusst – rassistisch, sexistisch oder unterdrückend ist.

In der Debatte wird CRT bewusst zu einem Theoriekonstrukt gemacht, das es in dieser Art in der akademischen Forschung zwar als Überbegriff gibt, nicht aber als konzise Theorie, und das in Schulen daher auch nicht gelehrt wurde. Vor allem aber werden zahllose Texte, die Sklaverei und Rassismus zum Thema haben, quasi im Nachhinein der CRT zugeordnet und damit verdammt – oder gemeldet. Das gilt vor allem dann, wenn sie nahelegen, dass das Leben in rassistisch geprägten Gesellschaften in Menschen auch unbewusste Vorurteile festsetzen kann.

Sklaverei ohne System?

Ein Gesetz aus North Dakota sieht vor, CRT insgesamt aus dem Klassenzimmer zu verbannen. Diese wird dabei als Theorie definiert, die "Rassismus nicht lediglich als Produkt gelernter, individueller Vorurteile sieht, sondern als systemisch in die amerikanische Gesellschaft eingebettet". An der Formulierung des Gesetzestextes kommt scharfe Kritik: Diskutiere man über Sklaverei, dürfte das Lehrpersonal nun nur noch sagen, dass die einzelnen Sklavenhalter rassistisch gewesen seien, sagt Jeffrey Sachs vom Pen-Zentrum dem Radiosender NPR. "Das System, in dem sie sich befanden, die Gesetze, die sie unterstützten, die Wirtschaft, die das Geschäft profitabel machte – all diese institutionellen Besonderheiten müsste man davon trennen."

Das sei ein "Minenfeld", in dem Lehrpersonal herausfinden müsste, wie nun unbestritten essenzielle Themen wie Sklaverei oder Holocaust überhaupt unterrichtet werden dürfen. Auch bei Gesetzesvorlagen, die so vage formuliert sind, wie jene in South Carolina: Sie verbietet Themen, die "Unwohlsein, Schuld oder Kummer" im Zusammenhang mit politischen Überzeugungen auslösen könnten.

Übrigens hätte der Eifer der konservativen "Neusprech"-Fans auch schon einmal fast jenes Buch betroffen, aus dem sie die Inspiration für ihre Argument beziehen. Bereits 2017 sollte an einer Highschool in Idaho auch "1984" verboten werden. Immerhin, der Vorschlag scheiterte schließlich. (Manuel Escher, Noura Maan, 9.2.2022)