Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., auf einem Foto aus dem Jahr 2012.

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Dass ein Papst der katholischen Kirche – und sei es auch nur ein ehemaliger – öffentlich der Lüge bezichtigt wird, hat Seltenheitswert. Es ist peinlich für die Kirche und geradezu infam für den Beschuldigten – und entsprechend vehement bestreitet Benedikt XVI. den Vorwurf in einem neuen Schreiben zum Münchner Gutachten, das gestern vom Vatikan veröffentlicht wurde.

"Bei der Riesenarbeit jener Tage ist ein Versehen erfolgt, was die Frage meiner Teilnahme an der Ordinariatssitzung vom 15. Januar 1980 betrifft. Dieser Fehler, der bedauerlicherweise geschehen ist, war nicht beabsichtigt und ist, so hoffe ich, auch entschuldbar", schreibt der emeritierte Papst. "Dass das Versehen ausgenutzt wurde, um an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, ja, mich als Lügner darzustellen, hat mich tief getroffen."

"Riesenarbeit"

Mit der "Riesenarbeit jener Tage" meint Joseph Ratzinger die Erarbeitung der Stellungnahme zuhanden der Anwaltskanzlei, die das Gutachten zum sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese München und Freising erarbeitet und ihm dabei Fehlverhalten in vier Fällen vorgeworfen hat. Insgesamt, betont der emeritierte Papst, hätten er und eine "kleine Gruppe von Freunden", die ihm bei der Stellungnahme geholfen hätten, nahezu 8.000 Seiten digitale Aktendokumentation lesen und auszuwerten müssen. Bei der Erstellung der Endfassung sei es dann wegen des hohen Zeitdrucks zu einem "Übertragungsfehler" durch einen der Mitarbeiter gekommen.

Dies könne man Benedikt XVI. nicht als bewusste Falschaussage oder "Lüge" anlasten, betonen seine Mitarbeiter in einem neuen "Faktencheck", mit dem die Vorwürfe aus dem Gutachten widerlegt werden sollen. Ratzingers Mitarbeiter – drei Kirchenrechtler und ein Anwalt – bestreiten alle vier behaupteten Versäumnisse: "In keinem der Fälle, die das Gutachten untersucht, hatte Joseph Ratzinger Kenntnis von Taten oder vom Tatverdacht sexuellen Missbrauchs der Priester. Das Gutachten präsentiert keine Beweise dafür, dass es sich anders verhält." Es treffe auch nicht zu, dass Ratzinger bestimmte sexuelle Übergriffe, wie etwa Exhibitionismus, verharmlost habe. Entsprechende Aussagen seien aus dem Zusammenhang gerissen worden.

Auch Selbstkritik

Bei aller Selbstverteidigung schlägt Benedikt XVI. in seinem Brief aber auch selbstkritische Töne an: Bei seinen Begegnungen mit Missbrauchsopfern habe er den Folgen der "übergroßen Schuld ins Auge gesehen und verstehen gelernt, dass wir selbst in diese übergroße Schuld hineingezogen werden, wenn wir sie übersehen wollen oder sie nicht mit der nötigen Entschiedenheit und Verantwortung angehen, wie dies zu oft geschehen ist und geschieht", schreibt der Ex-Papst. Er könne deshalb nur noch einmal seine "tiefe Scham" und die aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Missbrauchs zum Ausdruck bringen. Er habe in der katholischen Kirche große Verantwortung getragen, und umso größer sei deshalb sein Schmerz über die Vergehen und Fehler, die in seinen Amtszeiten an den jeweiligen Orten geschehen seien.

Zum Schluss wird das Schreiben Benedikts zu einer Art Vermächtnis. "Ich werde ja nun bald vor dem endgültigen Richter meines Lebens stehen", schreibt der der 94-Jährige. Auch wenn er beim Rückblick auf sein langes Leben "viel Grund zum Erschrecken und zur Angst" habe, so sei er doch frohen Mutes, weil er darauf vertraue, "dass der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitten hat und so als Richter zugleich auch mein Anwalt ist". Das Christsein schenke ihm "die Bekanntschaft, ja, die Freundschaft mit dem Richter meines Lebens und lässt mich so zuversichtlich durch das dunkle Tor des Todes hindurchgehen". (Dominik Straub aus Rom, 8.2.2022)