Die Direktorin des International Institute for Peace, Stephanie Fenkart, erkennt in ihrem Gastblog keine einfache Lösung für den Ukraine-Russland-Konflikt.

Während in vielen westlichen Medien seit Wochen über einen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine spekuliert wird, scheint diese erstaunlich ruhig zu bleiben. Selbst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der Chef des ukrainischen nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, Olexi Danilow, versuchen zu beschwichtigen und verweisen darauf, dass russische Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze für die Ukraine nichts Neues sind. Dass die Ukraine derzeit nicht von einer militärischen Eskalation ausgeht, bedeutet allerdings nicht, dass sie Russland unterschätzen. Ganz im Gegenteil, sind sie doch seit acht Jahren mit aktiver und hybrider Kriegsführung, Cyberattacken, antiukrainischer Propaganda, militärischer Unterstützung von Separatisten im Osten bis zum Verlust eines Teiles ukrainischen Territoriums, der Krim, konfrontiert.

Schon im März und April 2021 kam es zu einer Verlegung zusätzlicher russischer Truppen an die ukrainische Grenze, und obwohl auch damals von einer erhöhten Gefahr ausgegangen wurde, blieb die Kriegsrhetorik weit unter dem Niveau vom November 2021. Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland ist aber nur eine Dimension der multidimensionalen Problematik zwischen den USA und ihren Alliierten, der Ukraine und Russland. Die diplomatischen Bemühungen zwischen USA/Nato und Russland in Genf und in Brüssel zu Beginn des Jahres machten deutlich, dass es weniger um die Ukraine als um die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur und die Rolle, die Russland darin hat beziehungsweise haben soll, geht.

Russlands fehlerhafte Außenpolitik gegenüber der Ukraine

"Die Ukraine ist nicht Russland", schrieb einst Leonid Kutschma (ukrainischer Präsident 1994–2005), und Russland hätte gut daran getan, seinem Rat Folge zu leisten. Auch wenn es viele Gemeinsamkeiten in Bezug auf Geschichte, Religion, Sprache und Kultur zwischen der Ukraine und Russland gibt, ist die russisch-ukrainische historische Verbindung doch keine lineare, und die Ukraine war nie ein genuiner Teil des russischen Reichs und der späteren Sowjetunion. Selbst nach der Unabhängigkeit der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde diese als etwas Fehlerhaftes interpretiert, denn "Russen und Ukrainer sind ein Volk", wie Putin in der Vergangenheit mehrfach betont hat. Der Fokus des russischen Narrativs liegt auf den Gemeinsamkeiten und nicht auf den Unterschieden zwischen Russland und der Ukraine.

Es ist ein Fokus, der das ukrainische nationale Projekt generell als feindselig und unnatürlich annimmt und einen blinden Fleck auf innerukrainische Entwicklungen wirft. Anstatt sich den politischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen eines neuen unabhängigen Staates zu stellen und auf eine unabhängige Ukraine hinzuarbeiten, die russlandfreundlich ist, aber auch Teil der westlichen Hemisphäre sein kann, hat sich der Kreml hauptsächlich mit korrupten Politikerinnen, Politikern und Elite innerhalb der Ukraine eingelassen. Russland hätte gut daran getan einzusehen, dass der Großteil der ukrainischen Elite und das von ihr getragene politische Projekt von einem souveränen Staat mit ukrainischer Identität träumen und sich nicht als "kleinen Bruder", sondern als "freundlichen Nachbarn" Russlands sehen. Die Ereignisse nach der Maidan-Revolution 2013/14 – Annexion der Krim und Unterstützung im Donbass – haben diesen Prozess zementiert, und "der kleine Bruder" wurde zum "verfeindeten Nachbarn", der zumindest auf politischer Ebene nur noch in eine Richtung, nämlich nach Westen und in die Nato, blickt.

Innenpolitisch unter Druck

Dass die Beziehung zwischen der Ukraine und Russland seit langem vergiftet sind, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch das Projekt einer vereinten Ukraine noch nicht beendet ist. Russland hat daran sicher einen Anteil, doch auch die Ukraine ist innenpolitisch unter Druck, rechte Nationalisten beeinflussen das politische System, das Vertrauen in Politik und Institutionen ist geschwächt, und die Wirtschaft liegt am Boden. Die großen Hoffnungen nach der sogenannten "Revolution der Würde" in den Jahren 2013/14, die sich zu Beginn vor allem gegen das korrupte System stellte, wurden nicht erfüllt. Die vage formulierten und relativ führungslosen Proteste schufen auch ein Vakuum, in dem unterschiedliche – vor allem nationalistische – Gruppen, die nicht die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer repräsentieren, zunehmend Einfluss gewonnen haben und das öffentliche Narrativ maßgeblich prägen. Jegliche Kompromissbereitschaft und/oder Zusammenarbeit mit Russland wird als prorussische Haltung abgestempelt und daher als antiukrainisch interpretiert. Das ukrainische Nationalprojekt gründet seine Basis spätestens seit 2014 auf antirussischen Fundamenten. Die Ukraine kann es nur als Gegensatz zu Russland geben.

Insbesondere im Osten und Südosten des Landes fürchteten allerdings bereits vor der Revolution am Maidan 2013/14 viele um ihre Arbeitsplätze in traditionellen Schwerbetrieben, da sie auf dem europäischen Markt kaum konkurrenzfähig sein würden. Dieser Teil der ukrainischen Bevölkerung hat ein pragmatisches Interesse an guten Beziehungen zu Russland, ohne dass sie das zu prorussischen Aktivisten machen würde. Das Problem der Ukraine ist keine Spaltung der Gesellschaft per se, sondern die politische Repräsentation unterschiedlicher Ansichten über die Zukunft des Landes.

So hat Selenskyj im März 2021 Wiktor Medwedtschuk, einen "prorussischen" Oligarchen und Politiker der größten ukrainischen Oppositionspartei, unter dubiosen Umständen unter Hausarrest stellen lassen und seine Medienhäuser und -programme geschlossen – zu einem Zeitpunkt, als seine Oppositionspartei in Umfragen führte. Auch gegen Petro Poroschenko (ukrainischer Präsident 2014–2019) gibt es Untersuchungen wegen angeblichen Hochverrats, was dieser als politisch motiviert kritisiert.

So verständlich es ist, jeglichen (pro)russischen Einfluss auf innenpolitische Angelegenheiten verhindern zu wollen (anzumerken: Medwedtschuk ist persönlich mit Putin bekannt), so muss dies doch mit rechtsstaatlich korrekten Mitteln geschehen. Auch der Westen täte gut daran, solche Entwicklungen ernsthaft zu beobachten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Gespannt blickt die Welt seit Monaten auf die ukrainisch-russische Grenze.
Foto: Reuters

Welche Rolle spielt die Ukraine für den Westen?

Die müßige Diskussion darüber, ob Gorbatschow im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung zugesagt wurde, dass sich die Nato "keinen Zoll" Richtung Osten ausweiten wird, lenkt vom Wesentlichen ab. Weder heute noch damals hätten die USA oder die Nato über die sicherheitspolitische Orientierung osteuropäischer Staaten rechtsverbindlich entscheiden können. Russland, das größte Land der Welt, sieht sich als Regionalmacht und möchte als solche auch anerkannt werden. Die Nato-Osterweiterung wird als Affront gegenüber einem geschwächten Russland gesehen und weniger als reale Bedrohung. Laut einer Umfrage des Lewada-Instituts glaubt ein Großteil der russischen Bevölkerung, dass die USA und die Nato für die momentane Krise den Großteil der Verantwortung tragen (unterstützt durch dementsprechende Propaganda). Um Dmitri Trenin sinngemäß aus der ZDF-Dokuserie "Inside Nato" zu zitieren: "Für Russland wiegt ein Vertrauensbruch schwerer als ein Vertragsbruch."

Auch wenn die "Politik der offenen Tür" der Nato dem liberaldemokratischen Wertegerüst moderner demokratischer Nationalstaaten entspricht und prinzipiell zu begrüßen ist, ist es doch verwunderlich, dass 2008 in Bukarest die Aufnahme der Ukraine in das Bündnis angesprochen wurde – zu einem Zeitpunkt, an dem ein Beitritt weder in der ukrainischen Führung Gesprächsthema war noch eine Zustimmung der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung gegeben war. Ganz abgesehen davon, dass es aus verteidigungslogischer Sicht weder sinnvoll noch durchführbar gewesen wäre und allgemein bekannt war, dass damit für Russland eine rote Linie überschritten würde. Das ist keine Legitimation für jegliche Intervention in einen souveränen Staat, doch realpolitisch kann ein solches Vorgehen drastische Konsequenzen mit sich bringen, die es zu vermeiden lohnt.

Ob nun Russland seine Streitkräfte proaktiv an der ukrainischen Grenze erhöht hat, um eine Diskussion über europäische Sicherheit einzuleiten, oder aber die westliche Reaktion reaktiv dafür nutzte, um für sich weitreichende Sicherheitsgarantien zu reklamieren, weiß wohl nur Putin selbst. Fakt ist jedoch, dass die USA und die Nato-Partner auf die nicht akzeptable Forderung Russlands, eine Nato-Erweiterung für die Ukraine auszuschließen und Truppen aus Osteuropa abzuziehen, reagiert haben und sogar schriftlich darauf geantwortet haben. Das impliziert zumindest, dass die sicherheitspolitischen Bedenken Russlands gehört und auch ernst genommen werden. Es ist Russland gelungen, den Westen dazu zu zwingen, über europäische Sicherheit zu diskutieren oder zumindest darüber nachzudenken. Dass auch der 2019 aufgekündigte INF-Vertrag (Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag von 1987 zwischen den USA und Russland) wieder zur Debatte steht, ist ein weiterer Erfolg für Russland in der jetzigen Situation, von dem im besten Fall ganz Europa profitieren könnte.

Wie mit Russland umgehen?

Trotz Zusagen (limitierter) militärischer Hilfe für die Ukraine und Sanktionsdrohungen im Fall einer bewaffneten Eskalation kommt der Ukraine in dieser Diskussion höchstens eine dritt- oder viertrangige Bedeutung zu. Weder der ukrainische Präsident noch sein Außen- oder Verteidigungsminister waren in die Gespräche eingebunden. Dazu kommt, dass diplomatische Bemühungen, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu beenden, ebenfalls auf dem Abstellgleis gelandet sind. Die Minsk-II-Vereinbarung, die die Deeskalation und Befriedung des seit 2014 in der Ostukraine herrschenden Krieges und eine politische Beilegung des Konflikts zum Inhalt hat, wird auch von der Ukraine nicht umgesetzt.

Insbesondere rechte Nationalisten in der Ukraine sehen diese Vereinbarung – durchaus nicht unbegründet – als zumindest diplomatischen Sieg Russlands gegenüber der Ukraine. Dennoch könnte die Implementierung des Abkommens einen Normalzustand einleiten und der Bevölkerung in den nicht regierungskontrollierten Gebieten im Osten zugutekommen. Dass die ukrainische Regierung Minsk II als Nullsummenspiel betrachtet, ist aber auch auf den Einfluss ukrainischer Nationalisten zurückzuführen, die jeglichen Erfolg Russlands als Kapitulation betrachten, ganz egal ob es zu einer Verbesserung der Lebensumstände der in den betroffenen Gebieten lebenden Menschen führen könnte oder nicht. Auch wenn die Minsk-Vereinbarungen, so wie jedes andere Abkommen auch, sicher nicht perfekt sind, sind sie bis dato doch das einzige Abkommen zur Beilegung des Konflikts, das es gibt.

Doch auch die EU ist sich uneinig und findet keinen gemeinsamen Standpunkt, wie sie mit Russland umgehen soll. Während insbesondere für das Baltikum und Polen Russland als existenzielle Gefahr wahrgenommen wird – aufgrund historischer Erfahrungen und der Ereignisse von 2014, die auch damals niemand vorhergesehen hatte –, versuchen sich Frankreich und Deutschland weiterhin in Diplomatie, um einen bewaffneten Konflikt, der sie zu drastischen Maßnahmen zwingen würde, zu verhindern (Deutschland vor allem auch, um seinen Energiebedarf sicherzustellen und das Gaspipelineprojekt Nord Stream II nicht zu gefährden). Wie so oft spielt genau diese Uneinigkeit des Westens Russland in die Hände und öffnet Handlungsspielräume. In diesem Zusammenhang ist sicher auch das Treffen vom 2. Februar zwischen Putin und Viktor Orbán zu sehen, der sich seit jeher für die Aufhebung der Sanktionen gegenüber Russland einsetzt.

Gibt es Auswege aus dem Dilemma?

Die Vielschichtigkeit dieses Konflikts verunmöglicht eine einfache Lösung. Auch wenn zu hoffen bleibt, dass es zu keiner großen militärischen Invasion der Ukraine kommt, bleibt die Gefahr einer Eskalation. Weder die Nato noch die EU oder Russland haben Interesse an einer militärischen Konfrontation, doch die Gräben sind so tief wie seit langem nicht. Die Ankündigung der USA, Truppen nach Deutschland und Polen zu senden, deutet nicht auf eine rasche Entspannung der Lage hin.

Eine Möglichkeit der Ukraine, die zunehmend diskutiert wird, wäre eine international anerkannte militärische Neutralität. Dazu bräuchte es jedoch einen offenen Diskurs innerhalb der Ukraine, gepaart mit der schwierigen Aufgabe der Konfliktlösung im Osten des Landes und – noch schwieriger – der Lösung der Krimkrise und der Normalisierung des Verhältnisses zu Russland. Zusätzlich steht die Ukraine vor vielen innenpolitischen und soziökonomischen Herausforderungen. So wie die heutigen Nationalstaaten in West- und Mitteleuropa muss auch die Ukraine ihren eigenen Weg finden.

Die EU soll weiterhin versuchen, eine militärische Eskalation zu verhindern. Eine militärische Eskalation betrifft in erster Linie die vor Ort lebenden Menschen, und jegliche militärischen Eingriffe bringen humanitäres Leid. Es ist besonders wichtig, nicht auf jene zu vergessen, die jeden Tag die Frontlinie überqueren, um Pensionen oder andere Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, und auf jene, die seit Ausbruch des bewaffneten Konflikts direkt betroffen sind oder von einem zukünftigen Kriegsausbruch betroffen wären.

Angesichts der vielen globalen Herausforderungen, der Klimakrise, der Covid-19-Pandemie, Cyberkriminalität und so weiter sollte sich vor allem auch der Westen bemühen, eine kluge, friedliche und kooperative Außenpolitik zu fördern. Auch wenn es derzeit nicht wahrscheinlich erscheint, könnte eine Reorientierung der europäischen Sicherheitspolitik, in der Russland irgendwann einen Platz findet, von einer Vision zur Realität werden. Vielleicht muss man Ideen zuerst denken, bevor die Möglichkeit der Realisierung überhaupt erst zu entstehen beginnt. (Stephanie Fenkart, 14.2.2022)