Simulationen, Modelle und künstliche Intelligenz machen das Morgen etwas klarer. Doch selbst zur besten Prognose gehören Unschärfen, die vielfach auch ihrer Verbesserung dienen können.

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Seit jeher versuchen Menschen, dem unbekannten Morgen ein Stück seiner Unberechenbarkeit abzuringen. Die dafür gewählten Mittel reichen vom Orakel von Delphi über das Lesen in Teeblättern bis hin zur Kristallkugel. Heute existieren zahlreiche wissenschaftliche Werkzeuge, um einen Blick in künftige Entwicklungen zu erhaschen, etwa die Statistik.

"Sie gab uns mächtige Werkzeuge in die Hand, um alles Mögliche zu analysieren, von Masernepidemien bis zu der Frage, für wen die Wähler bei der nächsten Wahl stimmen werden", schreibt der britische Mathematiker Ian Stewart in seinem neuen Buch "Wetter, Viren und Wahrscheinlichkeit" (Rowohlt-Verlag, 2022).

Inzwischen werde das mathematische Verständnis für die verschiedenen Formen, die Ungewissheit annehmen kann, mit raffinierten Algorithmen kombiniert, um Muster und Strukturen offenzulegen. Viele Ereignisse, aber auch Erkrankungen weisen häufig typische Charakteristika auf – erkennt man diese und interpretiert sie richtig, lässt sich dementsprechend handeln.

Vibrierendes Handy, bebende Erde

Wer in Kalifornien lebt, weiß, dass die Erde in gewisser Regelmäßigkeit bebt. So auch im Dezember, als sich die Lage an der San-Andreas-Verwerfung in einem Beben der Stärke 6,2 äußerte. An sich nicht ungewöhnlich – und doch war diesmal einiges anders. Bei rund einer halben Million Menschen vibrierten die Telefone, Sekunden bevor die ersten Erschütterungen den kalifornischen Nordwesten trafen.

Einige Sekunden seien ausreichend, um Leben zu retten, sagen die an der Entwicklung von Shake-Alert beteiligten Forschenden. Es handelt sich um das Erdbebenfrühwarnsystem des United States Geological Survey (USGS) und seiner Partner – darunter die Uni von Kalifornien in Berkeley. Durch eine Kooperation mit Google ging die Warnung auch an zahlreiche Android-Telefone. Ein Erdbeben beginnt mit schnelleren Primärwellen, die für Menschen kaum wahrnehmbar durch den Boden wandern.

Erst die langsameren Sekundärwellen verursachen die merkliche Erschütterung. Verzeichnet das kalifornische Netzwerk aus 800 Sensoren Primärwellen, sendet es Daten an drei Verarbeitungszentren, die das Epizentrum des Bebens und die zu erwartende Stärke ermitteln. Die via App versandte Warnung erreichte im Dezember viele Betroffene vor den zerstörerischen Sekundärwellen. Je weiter jemand vom Epizentrum entfernt war, desto länger die Vorwarnzeit. Mit den gewonnenen Daten wird der Dienst adaptiert und künftig schneller Alarm schlagen, hoffen die Entwicklerinnen und Entwickler.

Die Vermessung des Ungewissen

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Die Pandemie hat einen zusätzlichen Faktor der Unsicherheit gebracht. Weltweit arbeiten Forschende daran, das (künftige) Geschehen zu fassen, um Menschen und Medizin Entscheidungshilfen zu geben.
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Mit Simulationen und ihrer Weiterentwicklung setzt sich Jana Lasser an der Technischen Universität Graz auseinander. "Für eine gute Simulation braucht es möglichst viele Informationen über die echte Welt", sagt die Physikerin und Komplexitätsforscherin. Seit Beginn der Corona-Pandemie konzentriert sie sich auf kleinteilige Modelle, die etwa eine Schule simulieren. Am Computer erstellt Lasser ein exaktes Abbild samt allen Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften, Klassengrößen, Lehrplänen und der Anzahl der stattfindenden Kontakte.

Die "Was-wäre-wenn-Maschine"

Zusätzlich fließen Daten über das Virus, Inkubationszeit, Symptome und Infektiosität ein, ebenso Maßnahmen wie Kontaktreduktion, Masken oder Impfung. "Diese virtuelle Schule kann ich als Was-wäre-wenn-Maschine verwenden: Wenn ich eine Infektion hinzufüge, sehe ich, was passiert und wer sich ansteckt", erklärt sie. Allerdings reicht eine Simulation nicht als Orientierungshilfe. Meist werden mehrere Tausend oder Zehntausend Szenarien durchgespielt. Gesammelt in einer Statistik werden sie interpretiert und zu Prognosen.

Die Modelle werden laufend mit der Wirklichkeit abgeglichen, etwa mithilfe offizieller Daten zu Covid-Ausbrüchen an Schulen der Ages. Dadurch schärft Lasser Parameter konstant nach. "In diesem fertig kalibrierten Werkzeug kann ich dann fragen, was passiert, wenn die Infektionszeit verkürzt ist oder eine neue Virusmutation auftritt." So findet sie heraus, was es für einen sicher gestalteten Schulbetrieb braucht.

Von Wetterstation bis Satellitenbild

Da man im Feld der Prognose aus Erfahrung und Abgleich klüger wird, ist eines ihrer am weitesten entwickelten Felder jenes, über das man sich in Österreich mit Vorliebe beschwert: die Wettervorhersage. Sie blickt auf eine lange Entwicklung zurück und verfügt über einen reichen Aufzeichnungsschatz. "Im Vergleich zu Modellen aus der Medizin oder Wirtschaft sind meteorologische Modelle die am weitesten entwickelten mit der höchsten Trefferquote", sagt Christian Csekits von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (Zamg).

Da Wetterkonditionen jedoch extrem dynamisch und variabel sind, beschränkt sich der Vorhersagebereich auf einen Rahmen von zehn bis 14 Tagen. Doch die Trefferquote der Simulationen ist hoch: Handelt es sich um das Wetter der kommenden zwei bis drei Tage, liegt diese bei 90 Prozent, ab dem fünften Tag bei 80 Prozent.

Wenn es am Sonntag den Spaziergang verregnet, ist das eine Sache. Eine andere ist es, im Gebirge von einem Wetterumschwung überrascht zu werden.
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Auch in der Welt des Wetters heißt die Währung: Daten, Daten, Daten. Zuerst wird der Istzustand betrachtet. Das geschieht über Punktdaten, also Werte von Messstationen, die lokale Gegebenheiten aufzeichnen, wie die Wetterstation auf der Hohen Warte. Diese werden um Satellitendaten, Radiosonden- und Radardaten ergänzt. Physikalische Modelle, die mehrmals täglich upgedatet werden, bilden sämtliche in der Atmosphäre ablaufenden Prozesse ab.

Eingespeist wird alles in eines von sieben an der Zamg genutzten mathematischen Modellen. Welches verwendet wird, entscheidet sich auf Basis von Statistik, meteorologischem Istzustand und Erfahrung. Trotz gefinkelter Berechnungen seien das Wissen und der geschulte Blick von Meteorologinnen und Meteorologen unabdingbar. Denn: "Wäre alles so eindeutig, bräuchte es keine Menschen mehr", sagt Csekits. Bis dato ist dieser Zeitpunkt noch nicht vorherzusehen. (Marlene Erhart, 12.2.2022)