Gerhard Roth verstarb am Dienstag im Alter von 79 Jahren in seiner Heimatstadt Graz.

Foto: Hans Rauscher

Wien – Als der Steirer Gerhard Roth begann, das unterirdische Österreich zu erkunden, trug er eine Kunstpostkarte bei sich. Sie zeigte das Bild einer Leichensektion, Rembrandts berühmte "Anatomie des Dr. Tulp". Roth war Mediziner ohne Abschluss und gelernter (und praktiziert habender) Datenverrechner. Bereits in den frühen 1970ern machte der Grazer als Autor von sich reden. Er gehörte zum Kreis um das Forum Stadtpark; in seiner frühen Prosa jonglierte er auf das Amüsanteste mit Versatzstücken der Kulturindustrie.

Romane wie "Der Stille Ozean" (1980) und "Landläufiger Tod" (1984) handelten bereits von einer Verstörung, die durch nichts zu besänftigen war. Roths Figuren, Strauchelnde und Vereinsamte, prallten auf die Ausläufer einer Lebenswelt, in der die Verbrechen des Nationalsozialismus vor allem dröhnend beschwiegen wurden.

Roth stellte sein literarisches Handwerkszeug fortan in den Dienst der Archäologie. Das Schreiben dieses Autors wurde zur Wühlarbeit, zum besessenen Graben, zum Bergen selbst noch unscheinbarer Belege für Grausamkeit, für verdruckste Gewalt. Roths Forschungsarbeit hob Büchners berühmtes Wort aus dem "Danton" auf: "Will’s denn nie still und dunkel werden, dass wir uns die garstigen Sünden einander nicht mehr anhören und ansehen?"

Autor und Fotograf

In Roths Labor wurde es nie mehr still und dunkel. Um die Zeugnisse der heimischen Gewaltgeschichte ausmachen und sichern zu können, stieg der Autor und begabte Fotograf hinab in die unterirdischen Bezirke unserer Kultur. In Wien angekommen, las er Knochen zusammen und versenkte sich mit stummer Faszination in den Anblick von Schriftstücken und Präparaten.

Roth wurde Österreichs dichtender Ethnograf, ein Archäologe und Konfliktforscher, der zugleich mit scharfen Nüstern die Besonderheiten des politischen Alltags witterte. Sein fasziniertes Engagement für Bruno Kreisky trug ihm nicht nur Lob ein. Roths Bemühen, die Mentalität der Gewalt zu entschlüsseln, ihre wiederkehrenden Muster aufzudecken und in Erzählformen von einiger Haltbarkeit umzugießen, stellt ihn in eine Reihe mit dem privatgelehrten Todesforscher Elias Canetti.

Sieben Bände trug Roth für seine "Archive des Schweigens" zusammen. Acht Bände umfasste sein nicht minder ambitiöser Zyklus "Orkus", beschlossen durch ein gleichnamiges Skizzenbuch (2011), das er mit "Reise zu den Toten" untertitelte.

Roth konnte sich in die Welt der Gugginger Künstler versetzen, er mimte abwechselnd den Imker, den Untersuchungsrichter, den Polyhistoriker. Gerhard Roth gehörte zu der raren Gattung der Weltbaumeister. Sogar Fundstücke aus der Natur gebrauchte er als Elemente für sein labyrinthisches Erzählen. Wie selbstverständlich gebot er über die Mittel der Reportage, der geduldigen Registratur.

Zutritt zum Unbewussten

In Roths Werk bestätigt sich noch einmal ein Grundverdacht der Moderne: Unsere Kultur beruhe auf Grundlagen, die verschwiegen sein möchten, um ihre schädliche Wirksamkeit umso nachdrücklicher unter Beweis zu stellen. Die Literatur wohnt in enger, nicht immer spannungsfreier Nachbarschaft mit dem Wahn. Sie besitzt Schlüssel, um sich zum Unbewussten Zutritt zu verschaffen. Roths Werk muss, von dieser Warte aus, in einer Linie mit den kuriosen Enthüllungen Edgar Allen Poes gelesen werden. Sie unterhält eine Nahebeziehung zu den Schriften Schrebers. Sie frönt dem strukturalistischen Kult um das Zeichen, dessen Arbitrarität (Beliebigkeit) trügerisch ist und die Sinne benebelt.

Roths Literatur speiste sich aus den morbiden Quellen der Wiener Repräsentationskultur. Ihren verstörenden Gehalt bezog sie aber aus dem rauen Klima der Steiermark. In ihr manifestierte sich der unerschütterliche Glaube an die Macht des Wortes. Poesie enthüllt ihren aufklärerischen Charakter, indem sie sich als Gegengeschichte den Zeugnissen der veröffentlichten und kodifizierten Meinung an die Seite stellt. Der kolossale Berg an Romanen, den Gerhard Roth hinterlässt, wird die österreichische Historie einmal getreulicher abbilden als ein ganzes Archiv von politisch gut gemeinter Literatur.

Neben der Literatur sein Herzensprojekt war das Greith-Haus in St. Ulrich in Greith, ein Ort der spartenübergreifenden Kunst- und Kulturvermittlung in der Südweststeiermark, wo Roth auch seit vielen Jahren einen Wohnsitz hatte.

Im Mai sollte sein neuer, 800-seitiger Roman "Die Imker" erscheinen. Jetzt ist Gerhard Roth, ein stiller, sympathischer Mann und Wahrnehmungskünstler, der 2016 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur erhielt, 79-jährig gestorben. Er hinterlässt seine Frau Senta, zwei Töchter und einen Sohn, den Regisseur Thomas Roth. (Ronald Pohl, 8.2.2022)