Vom Lehrstuhl in den Fauteuil in der Philosophischen Praxis Märzstraße: Alfred Pfabigan.

Foto: Heribert Corn

Die Corona-Pandemie hat viele Menschen in unterschiedlicher Form getroffen, ge- und mitunter überfordert, auch an und über ihre Grenzen gebracht. Neben medizinischer oder psychologischer Therapie suchen manche auch Hilfe in der Philosophie. Sie landen dann zum Beispiel in der Philosophischen Praxis Märzstraße bei Alfred Pfabigan, einem emeritierten Philosophieprofessor. Wie kann die Philosophie, wörtlich die "Liebe zur Weisheit", zu einem guten, ja, im Idealfall besseren Leben verhelfen?

STANDARD: In welcher Form haben sich das Coronavirus und seine Folgen für die Gesellschaft in Ihrer Philosophischen Praxis niedergeschlagen?

Pfabigan: Die Pandemie hat wirklich eine allgemeine, verwirrend-verstörende Wirkung, das ist in meiner Praxis mit einer gewissen Zeitverzögerung angekommen. Die Welle hat spätestens mit Omikron begonnen. Die innere Welt vieler Menschen hat sich in einer angespannten Weise verdüstert. Die Unsicherheit hat einen allgemeinen Charakter, aber sie tritt bei jedem – manchmal verkleidet – an einem speziellen Punkt auf. Dort kann man ansetzen. Wie viel davon auf die Rechnung von Corona geht, wird die Zukunft zeigen: Die Hegel'sche Eule der Minerva fliegt erst in der Dämmerung.

STANDARD: Machen wir es konkret: Angenommen, ein junger Mensch kommt zu Ihnen und sagt: "Ich habe das Gefühl, etwas zu verpassen, das ich nie mehr erleben können werde, weil man bestimmte Dinge eben nur als Teenager erleben kann. Und dann wird mir auch noch gesagt, das wäre egoistisch oder hedonistisch, weil die Pandemie andere Menschen vor existenziellere Herausforderungen stellt. Aber da ist ein Gefühl des unwiederbringlichen Verlusts." Was tun Sie?

Pfabigan: Was die verpassten Lebensmöglichkeiten betrifft, kann eine Intervention ein wenig helfen, damit umzugehen und kleine Kompensationen zu finden. Aber die Trauer um verpasste Lebensmöglichkeiten wird immer größer, wir leben in einer Erlebnisgesellschaft, da greifen die stoischen Ratschläge nicht mehr.

STANDARD: Zweiter Fall: Ein radikaler Impfgegner sitzt vor Ihnen und sagt: "Ich lasse mich nicht vom Staat in meiner Freiheit einschränken, ich werde mich der Impfpflicht widersetzen, das ist meine Sache. Ob ich mich impfen lasse oder nicht, geht den Staat nichts an." Wo setzen Sie an?

Pfabigan: Die wenigen Impfgegner, mit denen ich zu tun hatte, waren alle extrem von sich selbst überzeugte Menschen, die ihre Position nicht diskutierten.

STANDARD: Wie wurde aus Ihnen ein philosophischer Praktiker? Sie haben am Tag nach Ihrer Emeritierung als Professor für Philosophie an der Uni Wien am 1. Oktober 2013 Ihre Philosophische Praxis im 15. Bezirk eröffnet. Warum?

Pfabigan: Das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Hoffentlich erleben meine Klientinnen und Klienten unsere Zusammentreffen auch so bereichernd wie ich selbst. Es ist intellektuell faszinierend, philosophische Positionen auf ihre Brauchbarkeit im "wirklichen" Leben abzuklopfen. Da relativiert sich vieles – die papierenen Zuspitzungen im Kanon passen manchmal nicht in unsere komplexen Lebensverhältnisse.

STANDARD: Was sagt das über die Philosophie? Platon, der antike Denker, wollte die Philosophenherrschaft installieren und den Staat und ein uneingeschränktes Gewaltmonopol in die Hände der Philosophen legen. Jetzt gehen die Philosophinnen unter die "Dienstleister"?

Pfabigan: Die Philosophie war einmal das Dach, unter dem sich alle Disziplinen versammelt haben. Sie war – vor allem in der Antike – voll im Leben der Menschen. Das Christentum als Staatsreligion mit Monopolanspruch hat das machtvoll beendet, Wissenschaften haben sich ausdifferenziert, die Philosophie in die Ecke der Spekulation geschoben, und ein Großteil der akademischen Philosophie hat sich aufs Interpretieren des Kanons verlegt. Jetzt, in einer Zeit, in der sich Grundsätzliches im sozialen Konsens ändert, wo die alten Rezepte nicht mehr funktionieren, hat die Philosophie eine kleine Konjunktur und wird um Vorschläge gebeten. Manche tun das auf dem Podium, andere gehen zurück an den Ort, wo alles begonnen hat: statt auf den öffentlichen Marktplatz in die philosophischen Praxen.

Bücher, Bücher, Bücher, aber auch an die 3.000 Briefbeschwerer (im Bild rechts) hat der Philosoph Alfred Pfabigan.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Fehlenden Praxisbezug hat auch Karl Marx in der berühmten elften Feuerbach-These kritisiert: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Hätte er Freude mit Vertreterinnen und Vertretern der praktischen Philosophie? Ist deren Ziel Weltveränderung durch Arbeit am einzelnen Leben?

Pfabigan: Jein. Es sind Einzelpersonen oder Institutionen, die mich konsultieren. Im guten Fall kann ich ihnen helfen, mit ihrer Situation anders umzugehen oder gar Strategien zu ihrer Veränderung zu finden. Aber der Traum von einer Weltveränderung mit all seinen Implikationen ist zu groß für eine kleine Praxis. Es geht eher um die relativ zeitlosen Entscheidungssituationen im Leben, jene Enttäuschungen und Überforderungen, die Menschen aus dem Tritt bringen können – Liebe, Tod, Gier, Hass, aber auch Arbeitsprobleme oder die Begleitung bei Projekten.

STANDARD: Wer kommt vor allem zu Ihnen?

Pfabigan: Die Besucher haben keine Vorbehalte gegen die Philosophie. Also weder Angst vor der "schreckenden", weil unverständlichen Philosophie, noch das Bild vom Philosophen, der nicht einmal den berühmten metaphorischen Nagel einschlagen kann. Es sind meist gutausgebildete, aufgeschlossene Menschen, die etwas Neues probieren wollen – manche hatten auch schon therapeutische Erfahrungen, nicht immer gute.

STANDARD: Welche "Fälle" – also quasi idealtypischen Konfliktkonstellationen – sehen Sie in Ihrer Philosophischen Praxis?

Pfabigan: Natürlich dominieren Beziehungs- und Arbeitsplatzprobleme, aber man kann das nur schwer einengen, weil der philosophische Ansatz alle Lebensbereiche umfasst und mögliche Optionen diskutiert werden. Das greift auch bei moralischen Fragen bei der Testamentserstellung, Projektbegleitung, Generationenproblemen bei Betriebsübergaben oder Fragen der Lebensplanung – etwa vor dem Ruhestand oder einem Berufswechsel.

STANDARD: Sie schildern am Beginn Ihres Buchs ein Szenario: Mia ist unzufrieden mit ihrer Beziehung – und geht zu einer praktischen Philosophin. Die Reaktion in ihrem Umfeld lautet vielfach: "Ja ja, die Philosophen machen jetzt Psychotherapie light für Bobos und Woody-Allen-Figuren." Was machen Sie denn wirklich?

Pfabigan: Wir führen philosophische Gespräche, das soll aber niemanden abschrecken. Ludwig Wittgenstein hat den Satz "Ich kenne mich nicht aus" als Urform eines philosophischen Problems bestimmt. Ich höre zunächst geduldig und konzentriert zu und frage nach. So verschieden die Methoden der Psychotherapeuten mittlerweile sind, das haben wir wohl gemeinsam. Und dann versuche ich, aus der manchmal wirren Beschreibung eine konkludente Erzählung herzustellen. Was für den Klienten oder die Klientin eine selbstverständliche und geschlossene Angelegenheit ist, ändert sich oft, wenn man die Perspektive wechselt. Zudem – und das ist ein wichtiger Punkt – basieren manche Entscheidungen auf einem Bündel von die Realisierung lähmenden Widersprüchen. Etwa dass jemand den Pudding essen und zugleich behalten möchte – und sich so matt setzt. Wenn man den Widerspruch im richtigen Moment thematisiert und das akzeptiert wird, dann hat diese Einsicht eine dynamisierende Wirkung im Gespräch. Der Klient hat sich besser kennengelernt und ändert im guten Fall sein Selbstbild und damit auch seine Lebensoptionen.

STANDARD: Sie selbst stellen in Ihrem Buch die Frage: "Warum bespricht diese Frau ihr Problem nicht mit einem Psychotherapeuten?" Ja, warum bespricht sie es mit Ihnen und nicht mit einer Therapeutin?

Pfabigan: Zunächst: Ich dränge mich niemandem auf, die Werbetätigkeit ist gering, und es gibt keinen Zuschuss von der Krankenversicherung. Wer zu mir kommt, hat sich das gut überlegt – sucht Hilfe in einer speziellen Situation und will nicht in die Vergangenheit zurückgehen. Und vor allem nicht als Patient gesehen werden. Das Klassifikationssystem der WHO, die Grundlage der von der Krankenkasse geforderten Diagnose, mit Positionierungen wie "Narzissmus", siehe "Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen", missachtet ja die Würde und die Einzigartigkeit der Klientin und schränkt den Interventionsraum ein. Meine Klientinnen definieren sich nicht als "krank", wollen nicht "pathologisiert" werden und können auch darauf vertrauen, dass der philosophische Kanon weiter ist als das Krankheitsregister der WHO und hier ein anderer Begriff von "Normalität" herrscht. Die anklagende Selbstdiagnose einer Klientin, sie hätte "ein Problem mit Nähe", beschreibt keine Krankheit, sondern den Normalfall. Kant hat das den sozialen Antagonismus zwischen der menschlichen "Neigung, sich zu vergesellschaften", und dem "großen Hang, sich zu vereinzeln", genannt, den Umstand, dass wir einander "nicht wohl leiden", aber auch "nicht voneinander lassen können".

STANDARD: Wie findet die potenzielle Klientin oder ein Klient heraus, wo sie oder er richtig ist? Oder kommt man idealerweise mit beiden, mit der Psychotherapie oder Psychologie genauso ans Ziel wie mit der Philosophie?

Pfabigan: Das war die Intention meines Buchs: Menschen zu helfen, diese bei uns neue Technik zu verstehen – und dann zu entscheiden, ob das für sie das Richtige ist. Ich denke nicht, dass ich jemand von einer sogenannten Verhaltensstörung "heilen" kann – aber ich kann ihm helfen, damit in seinem "wir", seiner sozialen Umgebung umzugehen. Umgekehrt denke ich, dass manche Fragen, mit denen ich konfrontiert werde, außerhalb der Kompetenz eines konventionellen Psychotherapeuten liegen.

Alfred Pfabigan, praktizierender Philosoph.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Machen wir es präziser: Wem würden Sie abraten, sich von der Philosophie Hilfe zu erwarten, oder wen schicken Sie wieder weg, weil Sie sagen: Sie sind bei einer Psychiaterin oder einem Psychologen besser aufgehoben?

Pfabigan: Wer imstande ist, das Setting einzuhalten, also mit mir im Rahmen der vereinbarten Termine zivilisiert zu sprechen, ist mir willkommen. Menschen können an einem Problem leiden, etwa einer Suchtproblematik, wo ich ihnen absolut nicht helfen kann. Aber es wäre doch grausam, ihnen die Wohltat philosophischer Zuwendung zu verweigern, sie auf ihr Suchtproblem zu reduzieren und ihnen die Möglichkeit, die zahlreichen daraus resultierenden sozialen Fragen zu besprechen, zu verweigern. Es gibt zudem viele Menschen, die in einem diskreten Substitutionsprogramm leben, beruflich erfolgreich und sozial integriert sind – aber aus der Zeit "vor Methadon" haben sie noch einen Sack voller Probleme, bei deren Lösung sie Hilfe brauchen.

STANDARD: Wie lange dauert so ein Prozess bei Ihnen ungefähr?

Pfabigan: Eine Einheit dauert 60 Minuten, eine exakt definierte Frage, die zudem einen Zeitrahmen hat, kann in einigen Stunden gelöst werden. Es kann aber auch sein, dass jemand die Gespräche als hilfreich erlebt hat und sich für eine längere philosophische Betreuung entschließt. Oder, auch das ist häufig, dass jemand von seinem Arbeitgeber zehn Stunden bezahlt bekommen hat, die Gespräche als positiv erlebt hat und jetzt einmal im Monat kommt – sozusagen zum philosophischen Service. Und dann gibt es noch die gar nicht kleine Klientel von Menschen, die sich das einfach gönnen – ein, zwei Male im Monat ein kluges Gespräch über das eigene Leben.

STANDARD: Woran erkennen Sie, dass jemand philosophisch fertig- oder austherapiert ist?

Pfabigan: Die Menschen kommen aus einer sie belastenden Situation, die sie meistern wollen. Aber die Anfangsintention kann sich ändern; oder die Lösung, die wir finden, kann neue Probleme aufwerfen. Therapeúein heißt heilen, das tue ich sicher nicht. Aber eines kann ich garantieren: Wer länger bei mir ist, in dessen Leben ändert sich etwas – allerdings nicht unbedingt das, was er erhofft hat.

STANDARD: Im Untertitel des Buchs heißt es: "Alltag und Theorie zwischen Sokrates und Freud in der Philosophischen Praxis Märzstraße", an einer anderen Stelle sagen Sie, Sokrates und Sigmund Freud seien die "beiden Riesen, auf deren Schultern sich die philosophische Praktikerin niedergelassen hat". Wie kann uns Sokrates heute helfen beim Leben?

Pfabigan: Die Welt der sokratischen Dialoge, eine Männerwelt, aus der Frauen, Zugereiste, Vermögenslose und Sklaven ausgeschlossen waren, ist uns fremd. Was jetzt von Sokrates ist und wo Platon ihn als Sprachrohr benützt hat, ist strittig. Die sokratischen Dialoge sind gezielt formulierte Lehrgespräche, und die Art, wie Sokrates sich durchsetzt, macht ihn nicht immer sympathisch. Seine Zuspitzungen sind intellektuell anregend, doch passen sie nur schwer in unsere "diverse" Welt. Aber er hat öffentlich philosophiert, auf der Agora, und man konnte mit ihm über alles reden. Und in seinen Gesprächen hat er eine Fragetechnik entwickelt, die scharfsinnig ist und vor allem seine Gedankengänge offenlegt – bei den Fallschilderungen Freuds fehlen die Fragen, seine Resümees sind nicht nachvollziehbar, das ist unbefriedigend. Deswegen kommen auch Medizinerinnen und Mediziner zu mir, um Fragetechniken zu üben. Und die mit Recht gepriesene Ironie des Sokrates schützt vor falschen Dramatisierungen.

STANDARD: Stichwort Freud, da denkt man sofort an die Couch. Haben Sie auch eine in der Praxis, oder philosophiert man besser im Sitzen?

Pfabigan: In der Praxis Märzstraße gibt es mehrere Sitzgelegenheiten, darunter auch eine Couch – Klientinnen und Klienten haben die freie Platzwahl, aber noch nie wollte jemand liegen. Im Gegensatz zu Freud sehe ich gerne konzentriert auf Gesichter und habe auch keine Abneigung dagegen, angesehen zu werden. Ich denke, die Mimik gehört zum Gespräch. Aber ein "Prinzip des Sitzens" gibt es nicht. Es gibt ja eine peripatetische Philosophie, in meinem Fall: ein Spaziergang in Schönbrunn mit einem Klienten.

STANDARD: Es geht bei Ihrer Arbeit viel um die "Sorge um sich selbst", ein altes philosophisches Thema. Wie definieren Sie, gerade in Pandemiezeiten, die "Sorge um sich selbst"? Was raten Sie?

Pfabigan: Die Sorge um Gesundheit gehört zu der "um sich selbst" – im Curriculum der platonischen Philosophenkönige spielte die Gymnastik eine große Rolle. Doch viel von den alten Bestimmungen des "guten Lebens" ist weggefallen – etwa die Frage, ob mein Leben ein "gutes" ist, wenn jenes anderer "schlecht" ist? Das hat sich stark individualisiert: Dann wäre ein "gutes Leben" im Heute eines, das man im Morgen nicht bereut.

STANDARD: Wenn es ein philosophisches Zitat oder eine Denkfigur gäbe, die uns allen im Leben helfen könnte, was wäre es, das Sie uns mitgeben würden als Denk- und Lebensaufgabe am Ende dieses Interviews?

Pfabigan: Wenn es ein kleines Gedicht sein darf, eines von Bert Brecht, das Elemente des stoischen Denkens und der Streitfrage zwischen Determinismus und Existentialismus in einer dialektischen Volte kombiniert: "Alles wandelt sich. Neu beginnen kannst Du mit dem letzten Atemzug. / Aber: was geschehen ist, ist geschehen. Und das Wasser, das Du in den Wein gossest, kannst Du nicht mehr herausschütten. / Was geschehen ist, ist geschehen / Das Wasser, das Du in den Wein gossest, kannst du nicht mehr herausschütten. / Aber: alles wandelt sich. Neu beginnen kannst Du mit dem letzten Atemzug." Oder: Nach diversen Abstürzen habe ich mir einen Spruch von Beckett als Motto zugelegt: "Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail Again. Fail better." Oder: Angesichts – nicht nur meiner – der Selbsterkenntnis hinderlichen Neigung, eigene Übeltaten zu vergessen oder gar die Vergangenheit zu glorifizieren, erinnere ich an Nietzsche: "Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach." (Lisa Nimmervoll, 10.2.2022)