Jeden Tag lesen und hören wir Nachrichten über die Ukraine-Krise. Gehört das Riesenland zwischen Ost und West, das ärmste in Europa, in den Einflussbereich Russlands oder der Nato?

Wie europäisch sind die Ukrainer? Wer sind diese Menschen, um deren Zukunft die Großmächte streiten, überhaupt? Und was haben sie mit uns zu tun? Die Bilder, die wir von ihnen in unseren Köpfen haben, sind widersprüchlich.

Der ukrainische Filmemacher Sergej Losnitsa hat vor einiger Zeit im Wiener Filmmuseum einen Dokumentarfilm über seine Heimat gezeigt, in der eine Szene immer wiederkehrt: Nach einem Umsturz kommen neue Machthaber – Polen, ukrainische Nationalisten, Deutsche, Russen. Sie werden auf dem Hauptplatz in Kiew jedes Mal als Befreier begrüßt, mit Musik, einem Trachtenumzug und der Gabe von Brot und Salz. Immer in der – oft vergeblichen – Hoffnung, dass jetzt bessere Zeiten anbrechen. Der Film verzichtet auf jeden Kommentar und besteht nur aus Originalaufnahmen. Der Titel: "Babi Jar". So heißt die Schlucht nahe der Hauptstadt, wo 1941 SS-Leute 33.771 ukrainische Juden erschossen und hineingestürzt haben. Hier begann der Holocaust.

An Massakern, Gewalt und menschlichem Leiden ist die ukrainische Geschichte reich. "Bloodlands" nannte der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder sein Buch über Osteuropa, in dem die Ukraine eine Hauptrolle spielt. Millionen fanden den Tod während der Hungersnot, Holodomor genannt, im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Frühzeit der Sowjetunion. Bis heute sind sich die Historiker nicht einig, ob diese Katastrophe als Genozid einzustufen ist oder nicht.

Hinterlassene Spuren

Im Zweiten Weltkrieg starben sechs Millionen Ukrainer, darunter 1,5 Millionen Juden. Die meisten ermordet von den berüchtigten SS-Einsatzgruppen. Krieg und Zerstörung gibt es in der von Russland beanspruchten Donbas-Region noch heute.

Viele sind auf diesem Schiff gefahren, schrieb der polnische Autor Andrzej Stasiuk über die Ukraine. Sie alle haben Spuren hinterlassen.

In Lemberg findet der Besucher ein Denkmal für den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz, in Czernowitz eins für die "Austria". Das Lemberger Theater haben die in der ganzen Donaumonarchie wohlbekannten Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer gebaut. Die Westukraine – Galizien – gehörte einst als Kronland zu Österreich-Ungarn. Die großen österreichischen Autoren Joseph Roth und Paul Celan kommen von dort. Der russischsprachige Klassiker Nikolai Gogol war gebürtiger Ukrainer, ebenso der einstige sowjetische Partei- und Staatschef Leonid Breschnew. Auch der bekannte Schriftsteller Andrej Kurkow, der im Jahr 2013 auf dem Kiewer Euromajdan leidenschaftlich für die Unabhängigkeit seiner ukrainischen Heimat eintrat, schreibt auf Russisch.

Widersprüchliche Bilder, widersprüchliche Erzählungen. Aber für den österreichischen Medienkonsumenten sollte eines klar sein: Bei dem gegenwärtigen Konflikt geht es nicht um ein fernes Land, das uns nichts angeht. Die Geschichte der Ukraine ist mit der unseren eng verwoben. Als Europäer wie als Österreicher sind wir mitbetroffen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 10.2.2022)