Und das soll der einst meistgesuchte Verbrecher Frankreichs sein? Salah Abdeslam wirkt im Plexiglaskäfig fast unscheinbar, mit kurzem Haarschnitt, gebeugtem Haupt und sauberem weißem Hemd. Der 32-Jährige ist der einzige Überlebende des Terrorkommandos, das am 13. November 2015 mehrere Ziele in Paris attackiert hatte und im Konzertlokal Bataclan ein Blutbad mit 130 Toten und 350 Verletzten anrichtete.

Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen wurde Salah Abdeslam ins Gericht gebracht.
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Seit vergangenem September hörte das Gericht die schrecklichen Berichte traumatisierter Opfer. Eltern berichteten, wie die sterbende Tochter sie aus dem Saal des Massakers ein letztes Mal angerufen hatte; Ärzte taten kund, wie sie in Sekundenschnelle entscheiden mussten, wen sie retten konnten – und wen nicht.

"Eher gewöhnlich"

Jetzt sind die Täter an der Reihe. In dem eigens für den Prozess gebauten Pariser Gerichtsaal herrscht an diesem Mittwoch Ruhe. Nicht Kirchenruhe, sondern gespanntes Warten auf Abdeslam. Der marokkanischstämmige Franzose aus dem belgischen Molenbeek erhebt sich folgsam, als das Gericht den riesigen, bis auf den letzten Platz gefüllten Saal betrifft. Alle Blicke ruhen auf Abdeslam. In der fünfjährigen Ermittlungszeit hatte er sich bisher nie detailliert geäußert.

Nur einmal ließ er zwei Gerichtspsychiater zu sich. Die stellten fest, Abdeslam sei ein "eher gewöhnlicher junger Mann", der eine Leihidentität angenommen habe. Er habe sich einem "totalitären islamistischen System" verschrieben, dessen Rezepte er "wie ein Papagei" nachplappere. Aber psychisch krank, nein, das sei er nicht.

Jetzt ruft ihn Gerichtspräsident Jean-Louis Périès auf. Erste Frage: Würde sich Abdeslam als Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) bezeichnen? Abdeslam macht es spannend, sagt, er wolle zuerst klarmachen, dass er niemanden getötet habe. "Nicht einmal einen Kratzer habe ich jemandem zugefügt."

Frage nach den Motiven

Der Angeklagte vergleicht sich mit einem Attentäter, der mit 50 Kilo Sprengstoff einen Bus betrete, im letzten Moment aber einhalte. "Trotzdem wird ihm das niemand verzeihen", mutmaßt Abdeslam, offensichtlich an sein eigenes Los denkend. Richter Périès unterbricht ihn: Die Umstände des Attentats würden an einem anderen Tag besprochen; vorerst gehe es nur um Abdeslams Motive.

"Hatten Sie jemals die Absicht, in den Jihad nach Syrien zu reisen?", fragt der Richter. "Ich würde nicht 'beabsichtigt' sagen – eher, dass mir die Idee einmal durch den Kopf geschossen war", präzisiert Abdeslam. "Aber ich fuhr nie hin, auch wenn ich dem IS Treue geschworen hatte." Warum dem IS und nicht einer gemäßigten Anti-Assad-Miliz?, will der Richter wissen. "Weil die für die Demokratie sind. Ich bin für die islamische Ordnung, die Scharia." Um anzufügen: "Früher oder später siegt der Islam auf jeden Fall, da bin ich mir völlig sicher."

Und was denkt Abdeslam über die schrecklichen IS-Videos von Enthauptungen? In Frankreich habe man die Guillotine auch bis in die Achtzigerjahre verwendet, gibt der Angeklagte zu bedenken. "(Präsident) François Mitterrand schaffte sie ab, obwohl die Franzosen dagegen waren", weiß der Mann. "Die Scharia sieht für Gegner drei Strafen vor – Lösegeld, Todesstrafe oder Sklaverei." Die Todesstrafe, wendet der Gerichtspräsident ein, sei in den meisten Demokratien abgeschafft. "Nicht im Islam", kontert Abdeslam. Antwort des Richterpultes: "Nicht alle Muslime billigen diese Praxis." Abdeslam will das letzte Wort behalten: "In einer islamischen Ordnung schon."

Mit welcher Legitimierung?

Der Richter versucht es anders: Er weist anhand der Daten nach, dass der Syrien-Krieg keine noch so verquere Legitimierung des Bataclan-Anschlags darstellen könne. Das Attentat war schon vorher geplant gewesen. Aber Abdeslam hat auf alles eine Antwort, auch wenn er offensichtlich geradeheraus lügt. Sogar von den Syrien-Reisen seines Bruders und seines besten Freundes – des Bataclan-Drahtziehers Abdelhamid Abaoud – will er nichts gewusst haben.

In den nächsten Tagen soll Abdeslam ausführen, wie er die drei Bataclan-Killer an den Ort des Anschlags gefahren habe. Vielleicht wird er dann auch behaupten, er habe keine Ahnung gehabt, wozu die mitgeführten Kalaschnikows gedient hatten. (Stefan Brändle aus Paris, 9.2.2022)