Eine Wiederherstellung des Vertrauens in die Institution Kirche ist nicht zu erwarten, sagt der Theologe Franz Josef Weißenböck im Gastkommentar. Wie wird das die Kirche verändern?

Franziskus' Vorgänger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., wird in einem Münchner Gutachten belastet, bei Missbrauch weggesehen zu haben.
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Die Krise nimmt kein Ende, und endlos scheinen auch das Krisengerede und die Krisenklage. Tatsächlich hat die Missbrauchskrise nun die Spitze erreicht; das Münchner Gutachten hat Benedikt XVI. in ein äußerst ungünstiges Licht gestellt. Die zuletzt nachgereichten Erklärungen des emeritierten Papstes und seiner Berater machen die Sache nicht besser, eher noch schlimmer. Doch lassen sich die Ereignisse, sieht man sie in einem größeren Zusammenhang, auch ganz anders interpretieren, nämlich im Sinne einer "göttlichen Pädagogik".

Widerständige Religion

Nichts ist widerständiger gegen Veränderungen als Religion. Was einmal gilt, gilt für alle Zeit. Änderungen der Vorstellungen von Gott und deren Verbalisierung werden als Glaubensabfall gewertet. Auf den Scheiterhaufen mit den Häretikerinnen und Häretikern, ins Feuer mit den häretischen Schriften! Die fünf Bücher Moses wurden von Moses verfasst, die Bibel ist vom Heiligen Geist diktiert, die Erde ist der Mittelpunkt des Kosmos, Kopernikus und Galilei irren. Und Punkt!

Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts begannen sich andere als die gewohnten religiösen Weltdeutungen durchzusetzen. Es fanden sich immer mehr Menschen, die es riskierten, sich "ihres eigenen Verstandes zu bedienen", wie der Philosoph Immanuel Kant die Aufklärung beschrieb, ohne Anleitung durch die Kirchen. Nachdem Benjamin Franklin Mitte des 18. Jahrhunderts den Blitzableiter erfunden hatte, trauten Menschen zunehmend dieser Erfindung eher Schutz vor Gefahren zu als dem kirchlichen Wettersegen. Die Kirche aber blieb bei ihrer Welterklärung. Dass Menschen und Affen gemeinsame Ahnen haben könnten, lehnte sie ab, Adam und Eva blieben unsere "Ureltern" und der Ursprung der Erbsünde.

Eingebremste Verheutigung

Doch dann, Ende der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts, wollte ein Papst, dass die Kirche endlich in der modernen Zeit ankomme. "Aggiornamento", Verheutigung, war das Motto Johannes XXIII. und des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dieser Plan ist allerdings nur in Ansätzen aufgegangen – zum Beispiel in der Reform der Liturgie, in der Kenntnisnahme der historisch-kritischen Sicht der Bibel.

Statt auf diesem Weg weiter voranzugehen, leitete Papst Paul VI. eine Vollbremsung ein – siehe die Enzykliken über den Zölibat 1967 und gegen die Geburtenkontrolle 1968. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. vollzogen eine Kehrtwende. Die Einsetzung romtreuer und reaktionärer Bischöfe – in Österreich zum Beispiel Hans Hermann Groër, Kurt Krenn, Georg Eder – und die fortgesetzte Vertuschung von Missbrauchs- und anderen Untaten weltweit charakterisieren die letzten Jahrzehnte.

Alles das ergibt tatsächlich eine Krise der Institution. Krisensituationen sind Situationen der Entscheidung – und aus diesen Krisen ist längst auch höchst Wertvolles und Positives erwachsen: Die Aufklärung ist bei vielen Gläubigen angekommen; zu glauben heißt nicht mehr nur "gehorsam" zu sein.

Ein Fortschritt

Die Enzyklika "Humanae vitae" hat mit Sicherheit viele, auch fromme und treu katholische Paare dazu gebracht, dem Weg zu folgen, den sie in ihrem Innersten – das man gemeinhin "Gewissen" nennt – als richtig erkennen, und nicht den Anordnungen und Bewertungen kirchlicher Bürokraten. Was in puncto Sexualität möglich war, wurde auch auf anderen Gebieten üblich – siehe den massiven Abbruch der traditionellen Beichtpraxis, siehe inzwischen auch die wachsende Zahl von Katholikinnen und Katholiken, die ohne Trauschein zusammenleben, siehe den Abbruch bei Säuglingstaufen und Messbesuchen. Ja, das ist ein Fortschritt, weil es ein Schritt aus einer unwürdigen Bevormundung mündiger Menschen war und ist. Auf krummen Zeilen gerade schreiben – das ist göttliche Pädagogik!

Die unseligen Bischofsernennungen durch den polnischen Papst sind ebenso zu bewerten. Sie haben dazu beigetragen, das kirchliche Amt zu entmystifizieren. Jeder Auftritt von Bischof Krenn im Fernsehen war ein wichtiger Beitrag dazu. Die Enttarnung von Kardinal Groër als Missbrauchstäter war da wohl noch nachdrücklicher und wirkungsvoller. Diese Wirkung hatte Johannes Paul II. mit diesen Bischofsernennungen sicher nicht beabsichtigt; sie ist eher eine "List des Heiligen Geistes". Sie hat uns jedenfalls weitergebracht, als Kirche und als Gesellschaft.

Massive Wirkung

Dass jetzt der emeritierte Papst Benedikt XVI. der Lüge bezichtigt werden konnte, weil er die Vertuschung von Missbrauchsfällen in seiner Zeit als Erzbischof in München geleugnet hat, um die Reinheit der kirchlichen Fassade zu retten, ist der kaum noch zu übertreffende Gipfel dieses langen Prozesses. Die jüngsten Erklärungen vermögen an diesem Bild nichts zu ändern.

Ratzinger wurde gelegentlich dafür kritisiert, dass er sich den Titel "Papa emeritus" samt weißem Talar zurechtgeschneidert hat, statt sich in Schwarz zu kleiden und in ein Kloster in Bayern zurückzuziehen. Nun mag man auch darin die "List des Heiligen Geistes" erkennen; denn so war die Wirkung unvergleichlich massiver. Damit ist die gesamte Konstruktion der alten Kirche, einschließlich ihrer Pseudofundamente und ihres ideologischen Überbaus, vor aller Augen krachend gescheitert.

Verlorenes Vertrauen

Die weithin spürbare Kälte gegen die Opfer, die Reduktion der Untaten auf persönliches Fehlverhalten Einzelner ("Sünde") und das konsequente Leugnen systemischer Ursachen des Übels (Klerikalismus) lassen eine Wiederherstellung des Vertrauens in die Institution Kirche nicht erwarten. Im Vatikan wird man wohl weitermachen wie bisher. Auch Franziskus wird daran nichts oder nur sehr wenig ändern (können).

In aller Welt aber sind Menschen, die sich auf Jesus beziehen und sich daher Christinnen und Christen nennen, gerufen, am Haus ihres Glaubens zu bauen, als selbstverantwortliche Architektinnen und Architekten, als Einzelne und als Gemeinschaft. Sie werden dabei nicht verachten oder verwerfen, was frühere Zeiten und Menschen gedacht und geglaubt haben und was "Rom" sagt. Sie werden alles prüfen; behalten und weitertragen aber werden sie nur, was sie als gut erkennen. Man darf darauf vertrauen, dass der listige Heilige Geist sie dabei nicht im Stich lässt. (Franz Josef Weißenböck, 10.2.2022)