So hat eine Bibliothek auszusehen! Davor ein prächtiger, symmetrischer Garten voller grüner Sträucher und Bäume, weiße Säulen vor dem meterhohen Eingangstor des Gebäudes, fast so schön wie die Vorhalle des Pantheons. Betritt man das Innere des Bauwerks und blickt die Decken hoch, dann besteht kein Zweifel mehr: Hier muss das Wissen der Welt archiviert sein.

Pompös, bereits von außen: The Uncensored Library. In ihr stecken in vielen Ländern zensierte Artikel.
Screenshot: Reporter ohne Grenzen

The Uncensored Library, auf Deutsch "Die unzensierte Bibliothek", ist ein Projekt der NGO Reporter ohne Grenzen. Hier werden Artikel von Journalistinnen und Journalisten gespeichert, die in deren Heimatländern zensiert wurden – weil sie darin Korruption der Mächtigen und andere politische Missstände aufdecken und anprangern. Der Clou dahinter: Das Bibliotheksgebäude ist rein virtuell – es wurde im Videospiel "Minecraft" aus Pixeln erbaut.

"Minecraft" kann man als eine Art digitalen Lego-Baukasten beschreiben. Eine Welt, die aus quadratischen Klötzen aufgebaut ist. Aus insgesamt 2,5 Millionen Stück ist die Bibliothek erbaut. 24 Menschen aus 16 Ländern haben fünf Monate an ihrer Errichtung gearbeitet, es wurden sogar spezielle "Minecraft"-Architekten engagiert hat (ja, die gibt es!).

Aber warum wurde das Projekt für Pressefreiheit in ein Computerspiel transferiert? "'Minecraft' ist das weltweit meistgespielte Computerspiel und vor allem in der jüngeren Zielgruppe bis Ende 20 sehr beliebt. Dazu kommt die Möglichkeit, sich architektonisch auszuleben und dann auch noch Texte hochzuladen. Das empfanden wir als die perfekte Mischung für eine aufmerksamkeitsstarke Kampagne, um junge Menschen weltweit zu erreichen", sagt Projektleiterin Kristin Bässe.

Schönste Bibliothek der Welt

Zudem sei "Minecraft" ein sicherer Hafen für die Artikel: "Man kann Minecraft im Prinzip nicht sperren lassen. Was man sperren könnte, wäre der 'Minecraft'-Server, auf der sich die Bibliothek befindet. Die liegt aber nicht nur auf einem Server in Europa, sondern ist auch mithilfe der Blockchain gesichert. Und sie wurde mittlerweile schon mehr als 300.000-mal heruntergeladen. Wenn sie bei uns gesperrt werden sollte, kann sie jemand anders einfach wieder in Umlauf bringen", sagt Bässe.

Screenshot: Reporter ohne Grenzen

Der erste Raum, den man betritt, sobald man in die Welt von "Minecraft" und der unzensierten Bibliothek eintaucht, ist die Haupthalle. Ein riesiger, beeindruckender Raum, dessen Decke eine gläserne Kuppel schmückt, die von sämtlichen Länderflaggen der Welt umringt ist. Die Kuppel ist so hoch, dass das Spiel Wolken darunter erscheinen lässt. Blickt man zu Boden, ist unter einer riesigen Glasfläche eine Landkarte mit dem Pressefreiheit-Index versehen. Je dunkler das Land eingefärbt ist, desto schlechter steht es um die Pressefreiheit. Österreich ist in einem hellen Orange gehalten, China in tiefem Schwarz.

Screenshot: Reporter ohne Grenzen

Der monumentale Aufbau der Bibliothek habe auch für Anerkennung unter jungen Leuten und in der Gamerszene gesorgt. Immer wieder gebe es Schülerinnen und Schüler, die ein Referat über das Projekt halten, oder Eltern, die sich freuen, dass ihre Kinder Games nutzen, um etwas zu lernen. "Wir sind sogar im Bildband 'Büchertempel' über die schönsten Bibliotheken der Welt gelandet, als einzige virtuelle Vertreterin", sagt Bässe.

Zensurierte Artikel

Von der Haupthalle aus gibt es Gänge in verschiedene Räume, die für jeweils ein Land stehen: Vietnam, Russland, Saudi-Arabien, Mexiko und Ägypten. Neu dazugekommen sind Brasilien und Belarus. Jeder Raum ist anders gestaltet. Im Mexiko-Viertel gibt es eine Reihe von Monolithen mit Bildern. Es sind Denkmäler für ermordete Journalistinnen und Journalisten wie Rogelio Barragán Pérez. Pérez berichtete jahrelang auf seiner eigenen Website, "Guerrero Al Instante", über Verbrechen aller Art. Am 30. Juli 2019 wurde er tot im Kofferraum seines Wagens gefunden.

Reporter ohne Grenzen

Im Raum für Saudi-Arabien befindet sich ein riesiger Käfig mit Artikel des am 2. Oktober 2018 getöteten Jamal Khashoggi. Die Gitter haben ihren Sinn und Zweck. Saudi-Arabien gehört zu den drei Ländern mit den meisten inhaftierten Journalistinnen und Journalisten. Zu lesen sind Artikel aus dem Jahr 2018, beispielsweise über die Medienmacht des Kronprinzen Mohammed bin Salman und wie er sich diese durch Geld und die Verfolgung, Inhaftierung und Folter systemkritischer Journalistinnen und Journalisten erzwungen hat.

In der russischen Halle wartet ein großer Teich auf Besucherinnen und Besucher. Unter Wasser: ein großer Kraken, der seine Fangarme nach oben streckt. Eine Anspielung auf Russlands Entwicklung zur Datenkrake, seit den Protesten gegen die Parlamentswahl 2011. Auf einer kleinen Insel inmitten des Teichs sind die Artikel von Julia Beresowskaja zu finden. Berezowskaja schreibt für das Portal grani.ru, das in Russland gesperrt ist. Denn mittlerweile können Internetseiten ohne gerichtlichen Beschluss vom Netz ausgeschlossen werden. In der unzensierten Bibliothek sind die Texte von Beresowskaja trotzdem noch zu lesen.

Um an die Texte Nguyen Van Dais zu kommen, muss man im Vietnam-Saal erst durch den "Irrgarten der Wahrheit".
Screenshot: Reporter ohne Grenzen

Um an die Artikel von Nguyen Van Dai im Vietnam-Saal zu kommen, muss man sich erst durch einen Irrgarten schlagen. Er soll das Labyrinth zur Wahrheit symbolisieren, denn die kommunistische Staatspartei scheut keine Kosten und Mühen, Blogger wie Van Dai mundtot zu machen – unter anderem mit polizeilicher Gewalt. Seit 2019 müssen ausländische Internetseiten die Daten ihrer Userinnen und User auf vietnamesischen Servern speichern und dem Staat übergeben, wenn er es verlangt.

Proteste in "Animal Crossing"

Die Uncensored Library ist nicht das erste Beispiel, dass Aktivismus innerhalb eines Spiels stattfindet. Während der Pro-Hongkong-Bewegungen 2020 verhängte die chinesische Regierung eine Ausgangssperre. Aktivistinnen und Aktivisten führten ihren Protest daraufhin virtuell fort, und zwar in der knuffigen Aufbausimulation "Animal Crossing". Beispielsweise malten Spielerinnen und Spieler virtuelle Plakate, auf die sie "Free Hongkong – Revolution now" schrieben und stellten Screenshots davon auf Twitter. Wenig später verschwand das Spiel aus dem chinesischen Nintendo-Store und konnte nicht mehr heruntergeladen werden.

Die Bibliothek wird immer mal wieder aktualisiert. Mittlerweile gibt es einen Covid-19-Raum, in denen die Lage zur Pandemie in Diktaturen beschrieben wird, beispielsweise Nordkorea, das lange Zeit damit prahlte, keinen einzigen Corona-Fall zu haben, während Ärztinnen und Ärzte durchsickern ließen, tausende Patientinnen und Patienten mit den gleichen Symptomen zu behandeln.

Screenshot: Reporter ohne Grenzen

Hat man seine Tour durch die große Bibliothek abgeschlossen, steht man wieder in der pompösen Haupthalle, diesmal aber mit lauter Büchern im Gepäck. Bücher voller Mut, Aufopferung und Grundrechten, die in Teilen dieser Welt mit Füßen getreten werden. Sie sollten nicht versteckt in einem Videospiel stehen, sondern in jeder Bibliothek der Welt. Solange das nicht möglich ist, bleiben sie wenigstens virtuell unantastbar. (Thorben Pollerhof, 12.2.2022)