Aus schlimmen Versorgungsengpässen soll spirituelle Fülle entstehen: Vladimir Sorokin, postmoderner Erzähler.

Foto: Maria Sorokina

Seit Jahrtausendbeginn bestaunt die Weltöffentlichkeit den russischen Präsidenten Wladimir Putin wie eine träge blinzelnde Sphinx. Der Kreml-Herr scheue, so die übereinstimmende Expertenmeinung, keine Anstrengung, um die Machtvollkommenheit des alten Sowjetimperiums wiederherzustellen. Es erscheint daher folgerichtig, wenn Autor Vladimir Sorokin den Finger ganz wortwörtlich auf jene Wunde legt, die schon der UdSSR zum Verhängnis wurde: Zum Nationalstolz der atomaren Supermacht gesellt sich bis heute ein ebenso bestürzender wie quälender Konsumgütermangel.

An erster Stelle wäre ein besonderer Missstand zu nennen: das Fehlen von hochwertigem Toilettenpapier. Putin-Gegner Sorokin malt die Folgen einer solchen Katastrophe in all ihren postmodernen Einzelheiten "genüsslich" aus. Die rabenschwarze Farce Der Fingernagel bildet das Gravitationszentrum in dem Erzählband Die rote Pyramide. In ihm hat der Autor neun Prosastücke versammelt: Spiele mit der realistischen Erzählform, Trockenübungen in Sachen Wahn und Witz. Der älteste Text, eine gewaltsame Himmelfahrt mit anschließender Wiedergeburt unter dem Titel Hiroshima, entstand bereits 2002 für den Playboy.

In der kreuzfidelen Beschreibung jener Zimmerschlacht aber, die als Gemetzel zwischen hygienisch vernachlässigten Bürgern anhebt, kulminiert Sorokins ganzer Ehrgeiz. Indem er die Defekte des Kommunismus mit den negativen Errungenschaften der Putin-Ära kurzschließt, erzwingt er Aufmerksamkeit für den Gesichtspunkt der Kontinuität.

Der Konflikt in Der Fingernagel entzündet sich an einem simplen Umstand. Man sitzt schmausend beieinander, besitzt kein Fitzelchen Klopapier – und möchte trotzdem blitzblank dastehen. Also entblößen biedere Damen der Gesellschaft, nicht faul, voreinander ihre Gesäße. Sie hoffen, mit dem Erweis ihrer Sauberkeit Bewunderung zu ernten. Denn, wie Sorokin die Inschrift an einem Abort zitiert: "Wer sich mit Fingern wischt den A…, dem bläst Europa bald den Marsch!"

Ringen um Anerkennung

Russland hat eben nicht nur seine Transformation in eine oligarchische Hochburg des Spätkapitalismus summa cum laude absolviert. Seine Bewohner möchten, von vorne wie von hinten, als Weltbürger anerkannt sein. Die Gesellschaft des Putin-Reiches gleicht einer Ansammlung von Wölfen und Schafen. Als Medium der Verständigung dient beiden Gattungen die Gewalt.

In der titelgebenden Erzählung Die rote Pyramide stolpert ein durchschnittlicher Spross des Arbeiter- und Bauernparadieses in einen Herztod auf Raten. Der Bursche erhält irgendwann in den 1960ern Besuch von einem Engel. Dieser teilt ihm das Geheimnis des Kommunismus mit: Über dem Grundriss des Roten Platzes in Moskau stehe, für alle unsichtbar, die "Pyramide des roten Rauschens". Deren Schwingungen würde die Menschen in schlimme Unruhe versetzen, ehe die Ärmsten verrecken: "Damit der Mensch aufhört, Mensch zu sein."

Die Wahrheit des ihm Geoffenbarten geht Jura erst im Moment des Ablebens auf. Immer wieder dient Sorokin die "Idee" des Sowjetimperiums als Vorgabe: Es bildet die Chimäre, an deren Ordnung sich jede russische Gesellschaftsordnung, auch die Putin’sche, messen lassen muss. Die vom Kommunismus gesetzten Normen wirken fort. Sie enthalten unzählige Gewaltpotenziale und lenken das Denken und Sprechen von "Iwan Normalverbraucher".

Ihr Glutkern aber ist das Mysterium ewiger Gestaltwandlung. Aus akutem Mangel sollen materiell, aber auch spirituell Fülle und Überfluss entstehen. So kann Sorokin, im Rahmen einer Heiligenlegende, erzählen, wie sich die Ladungen von Raketensprengköpfen in reinen Zucker verwandeln. Er weiß, was es damit in Putin-Russland auf sich hat: "Hier ist alles, als ob." Für seinen metaphysischen Spott hat Sorokin (66) sich wiederholt die Drohungen Putin-naher Funktionäre anhören dürfen. In seinen Erzählungen, Romane, Dystopien hat er jedoch mehr als nur die Gegenwart im Blick. Er zielt auf Vergangenheit und Zukunft. Sorokins Literatur ist langlebiger als jede träge Sphinx. (Ronald Pohl, 11.2.2022)