Ist der emeritierte Papst ein guter Theologe? Der Historiker und Theologe Clemens Six findet dazu im Gastkommentar eine klare Antwort.

Papst Franziskus mit seinem Vorgänger Benedikt XVI.
Foto: EPD / Osservatore Romano

Im Einserkastl zu den Enthüllungen aus München rund um das systematische Verschweigen und Vertuschen von Kindesmissbrauch durch (deutsche) Kleriker attestierte Hans Rauscher Josef Ratzinger, dem pensionierten Papst Benedikt XVI., ein "beeindruckender Theologe mit kulturphilosophischem Ansatz" zu sein, auch wenn ihm nun eine aktive Rolle in diesem Verschweigen angelastet wird (siehe "Excusatio Pontifici").

Theologische Untiefen

Ich habe den Eindruck, dass das geflügelte Wort von Ratzinger als dem "guten" oder gar "beeindruckenden Theologen" regelmäßig in die Diskussion um Kirche und Papsttum eingebracht wird, auch wenn man im Grunde keine konkrete Vorstellung davon hat, was gute Theologie eigentlich ist. Die aktuelle Krise der Kirche ist auch eine Krise der Theologie des Vatikans und damit ein wesentliches Erbe der Ära Ratzinger. Eine Trennung zwischen dem Theologen Benedikt XVI. (gut) und dem Kirchenpolitiker (schlecht) ist künstlich und verstellt den Blick auf die theologischen Untiefen der aktuell höchst brisanten Lage der katholischen Kirche.

Zwei Beispiele zur wenig beeindruckenden Theologie Ratzingers: 1994 schickte die Kongregation für die Glaubenslehre unter dem Vorsitz Ratzingers ein Schreiben an alle Bischöfe der katholischen Kirche. Darin wurde erklärt, dass aus theologischen Gründen wiederverheirateten Geschiedenen die Teilnahme an der Kommunion zu verweigern sei. Zur Grundlage dieses Entscheids zählten neben päpstlichen Veröffentlichungen und dem Katechismus vor allem die biblischen Briefe des Apostels Paulus. Bibelkundige hier in Europa und auch im globalen Süden wiesen das Dokument als theologisch stümperhaft zurück. Die Glaubenskongregation hatte aus ideologischen Gründen wichtige Bibelbezüge einfach ignoriert. Die Konsequenzen in den Gemeinden waren und sind enorm.

Ausgrenzung und Abwehr

Zweites Beispiel: die Dekolonisierung der Theologie. Theologinnen und Theologen aus dem globalen Süden fordern seit Jahrzehnten, dass die Kirche das eurozentrische und koloniale Erbe in ihrer Lehre aufarbeitet. Es geht um ein kirchliches Selbstverständnis jenseits weißer Selbstherrlichkeit und um einen Rückbau theologischer Bevormundung. Ratzinger hatte in seiner Theologie nie viel übrig für derartige Unternehmungen. Im Gegenteil. Aus seiner Sicht waren diese alternativen Theologien gefährliche Infragestellungen der theologischen Gewissheiten aus der europäischen Geistesgeschichte.

Gute Theologie unterzieht die Quellen und Traditionen des Christentums einer kritischen Überprüfung im Lichte der gegenwärtigen, globalen Fragen. Die Ära Ratzinger bzw. Benedikt XVI. hat zu einer derartigen Theologie erschreckend wenig beigetragen. Schlimmer noch, sie hat durch eine Theologie der Ausgrenzung und eine Kirchenpolitik der Abwehr den institutionellen und weltanschaulichen Rahmen konserviert, der heute die umfassende Aufarbeitung der sexuellen Verbrechen behindert. (Clemens Six, 11.2.2022)